Wirtschaft

Eine Kunstwährung, die den Dollar verdrängen könnte

Seit dem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System und der Einfrierung seiner Zentralbankguthaben wurden die Bemühungen um eine alternative globale Finanzarchitektur verstärkt. Der hier vorgestellte Entwurf eines neuen Währungssystems widerspricht der Annahme einer Unersetzlichkeit des US-Dollars.
Eine Kunstwährung, die den Dollar verdrängen könnteQuelle: Gettyimages.ru © ATU Images / The Image Bank

eine Analyse von Bernd Murawski

Mitte März wurde verkündet, dass die Eurasische Wirtschaftsunion und China zum Ende des Monats Grundzüge eines neuen Finanzsystems vorstellen. Dessen Kern soll eine Referenzwährung bilden, die auf einem Währungskorb der beteiligten Staaten beruht. Dass bislang kein Ergebnis veröffentlicht wurde, mag an nicht ausgeräumten Differenzen zwischen Russland und China liegen. Da aber beide Länder unter wachsendem politischem Druck der USA stehen, dürfte weiter an dem Projekt gearbeitet werden.

Von einer Einfrierung von Guthaben auf westlichen Konten waren vor Russland Iran, Syrien, Venezuela und Afghanistan betroffen. Der aktuelle westliche Coup gegen die russische Zentralbank hat jedoch andere Staaten mehr als zuvor aufgeschreckt, die ihre Guthaben bei westlichen Finanzinstituten in Sicherheit geglaubt hatten. Das bisherige Vertrauen ihrer politischen Führungen erlitt im Zuge der Russlandsanktionen einen argen Dämpfer. Sollte ein alternatives globales Währungssystem kreiert werden, ist anzunehmen, dass vielerorts Interesse an einer Teilnahme bestünde.

Der während der letzten Jahre unternommene Versuch, den Renminbi zu einer bedeutenden Handels- und Reservewährung zu etablieren, kann allerdings als gescheitert betrachtet werden. Nach dessen Aufnahme in den Währungskorb des IWF im Jahr 2016 hatten in Peking große Hoffnungen bestanden. Die eingeschränkte Konvertierbarkeit der chinesischen Währung und der begrenzte Finanzmarkt des Landes erwiesen sich jedoch als entscheidende Hemmnisse. Angesichts dieser Erfahrungen ist die chinesische Führung augenscheinlich zu dem Schluss gelangt, dass es eines konzertierten internationalen Kraftakts bedarf, um die Machtstellung des US-Dollar zu brechen.

Doch gibt es außerhalb der westlichen Währungen – neben dem US-Dollar sind die wichtigsten der Euro, das britische Pfund und der japanische Yen – überhaupt Alternativen? Aktuell kaum, jedoch könnte eine neue Kunstwährung die Lösung sein.

Bemessungsgrundlagen für eine neue Kunstwährung

Wie eine neue Weltwährung aussehen kann, die dem von der Dollardominanz beherrschten westlichen Finanzsystem den Garaus macht, wird im Folgenden dargestellt. Die Kunstwährung soll den Namen Bancor tragen, den die Ökonomen John Maynard Keynes und Ernst Friedrich Schumacher im Jahr 1943 für ihren Entwurf einer Weltwährung gewählt hatten.

Für die Herausgabe des Bancor bedarf es einer neu zu gründenden Bank, die Globaltradebank heißen soll. Der Bancor soll auf einem Korb beruhen, der die Währungen aller nennenswerten Handelsnationen umfasst (etwa solche mit mehr als einer Milliarde US-Dollar Außenhandelsvolumen). Einbezogen werden entweder Staaten mit eigenen Währungen oder Währungsräume wie die Eurozone.

Zentral für die weiteren Überlegungen ist die Berechnungsgrundlage für die jeweiligen Anteile am Währungskorb. Diese werden wie folgt ermittelt:

  1. Zuerst ist das Außenwirtschaftspotenzial (AWP) eines Landes zu erfassen. Dafür werden alle Einnahmen (LBE) berücksichtigt, die in die Berechnung der Leistungsbilanz eingehen. Solche entstehen bei Waren- und Dienstleistungsexporten, sie betreffen ferner Erwerbs- und Vermögenseinkommen wie auch sonstige Geldübertragungen aus dem Ausland. Hinzu soll das Leistungsbilanzsaldo (LBS) addiert werden, das positiv oder negativ ist.

  2. Als Nächstes ist der erhaltene Betrag mit dem Quotienten aus Bruttosozialprodukt (BSP) und der Geldmenge M3 (GM3) zu multiplizieren, die in der Währung des betreffenden Landes kreiert wurde.

  3. Zugrunde gelegt werden die letzten statistischen Angaben, soweit diese für alle größeren Handelsnationen (etwa ab zehn Milliarden Außenhandelsvolumen) verfügbar sind.

Mit den aus der Gleichung AWP = (LBE + LBS) x BSP / GM3 ermittelten Zahlen werden die Anteile am Währungskorb zugewiesen. Solche Nationen bzw. Währungsräume werden durch ein größeres Gewicht belohnt, die

  1. einen hohen Außenwirtschaftserlös haben (u.a. durch Exporte, Tourismus, Repatriierung von Gewinnen);

  2. eine positive Leistungsbilanz aufweisen;

  3. relativ zu ihrer Wirtschaftsleistung nur in moderatem Umfang Geld geschaffen haben.

Organisation und Aufgaben der Globaltradebank

Die Gründungsstaaten (in diesem Fall die Eurasische Wirtschaftsunion und China) stellen ein Anfangskapital bereit, etwa im Wert von einer halben Billion US-Dollar. Deren Zentralbanken transferieren in diesem Umfang Devisen, Gold und Wertpapiere an die Globaltradebank. Jeder weitere Staat, der mit dem Bancor Handel betreiben möchte, muss sich als Mitglied registrieren lassen.

Die Eigentumsanteile an der Globaltradebank bemessen sich nach den getätigten Einlagen. Über deren Umfang und Art kann jedes Mitglied selbst entscheiden. Für die Stimmenverteilung bei Beschlüssen sind die Bevölkerungszahlen der Mitgliedsstaaten maßgebend. Diese werden ebenso bei der Besetzung des Vorstandes zugrunde gelegt. Die jeweiligen Weltregionen sind mit mindestens einem Sitz vertreten. China und Indien erhalten als mit Abstand größte Nationen einen festen Platz.

Als unveränderbare Bestimmungen gelten neben den Bemessungskriterien für den Währungskorb die folgenden Regeln:

  1. Die Mitglieder der Globaltradebank können jederzeit Währungen aus dem eigenen Portfolio in Bancor umtauschen. Als Akteure kommen deren Zentral- und Geschäftsbanken in Frage.

  2. Nach dem Erhalt von Beträgen in einer bestimmten Währung ist die Globaltradebank verpflichtet, die für den Währungskorb festgelegten Relationen mittels Devisenhandel wiederherzustellen.

  3. Dies bedeutet einschränkend zum 1. Punkt, dass nur solche Währungen und Beträge angenommen werden können, die sich mühelos umtauschen lassen.

  4. Die Devisengeschäfte zur Wiederherstellung der Währungskorbrelationen erfolgen gleichzeitig mit der Entgegennahme der Geldbeträge, damit keine Kursverluste entstehen.

  5. Mitgliedern der Globaltradebank können Kredite in maximal zehnfachem Umfang der Einlagen gewährt werden, die in Bancor ausgezahlt werden. Die Summe darf nicht den jährlichen Außenwirtschaftserlös eines Landes überschreiten. Die in Rechnung gestellten Zinsen sollen derart bemessen sein, dass sie laufende Kosten und Belastungen durch Kreditausfälle decken.

  6. Bancor-Bestände können jederzeit in andere Währungen umgetauscht werden. Ist dem kein entgegengesetzter Umtausch vorausgegangen, wird eine Extragebühr erhoben.

  7. Die Umrechnung in beide Richtungen erfolgt nach den aktuellen Kursen am Devisenmarkt.

Ein Beispiel:

Im Währungskorb befinden sich je 20 Prozent Renminbi, Euro und US-Dollar, je zehn Prozent Rubel, indische Rupien und brasilianischer Real sowie je fünf Prozent südafrikanischer Rand und türkische Lira. Wenn nun eine brasilianische Bank zehn Millionen Bancor mit der eigenen Währung kauft, muss die Globaltradebank auf dem Devisenmarkt für Real-Beträge im Wert von neun Millionen Bancor entsprechend der obigen Anteile Renminbi, Euro, US-Dollar, Rubel, Rupien, Rand und Lira erwerben. Würde der brasilianische Akteur US-Dollar veräußern, müssten diese im Umfang von acht Millionen Bancor in die übrigen Währungen des Korbs gemäß den Anteilen getauscht werden.

Einführung des Bancor in die Realwirtschaft

Die Verwendung des Bancor beschränkt sich zunächst auf den internationalen Handel. Folgende Maßnahmen tragen dazu bei, den Zahlungsverkehr auf die neue Kunstwährung umzustellen:

  1. Die Gründungsmitglieder der Globaltradebank stellen den Handel untereinander schrittweise auf eine Bezahlung mit Bancor um.

  2. Kredite der Gründungsmitglieder, aber auch nahestehender Geldinstitute wie der AIIB an andere Länder werden fortan nur in Bancor vergeben.

  3. Die an der Globaltradebank beteiligten Staaten verpflichten sich, Zahlungen in Bancor für die eigenen Waren und Dienstleistungen zu akzeptieren.

  4. Die Gründungsmitglieder – und möglicherweise später andere Mitglieder – geben öffentlich bekannt, allmählich zum vollständigen Handel in Bancor überzugehen. Eine Frist zwischen fünf und zehn Jahren erscheint angemessen. Danach werden andere Währungen nur noch in begrenztem Umfang, etwa von Auslandsreisenden, entgegengenommen.

  5. Bei neuen langfristigen Handelsabkommen wird eine Bezahlung in Bancor angestrebt. Ist die Gegenseite dazu nicht bereit, soll sich ein Verkäufer – wie es bei Gazprom geschah – nicht zur Entgegennahme anderer Währungen verpflichten.

  6. Der Bancor wird als reine Digitalwährung geschaffen. Ob später zusätzlich Bargeld eingeführt wird, kann offen bleiben.

Vorzüge und Probleme des Bancor

  1. Die Vermögensunterlegung von einer halben Billion US-Dollar inklusive der durch spätere Mitglieder eingebrachten Anteile bietet ein hohes Maß an Sicherheit, sodass auch größere Kreditausfälle zu stemmen sind. So weit das Grundkapital der Globaltradebank aus Devisen und daran gebundenen Wertpapieren wie Staatsanleihen besteht, empfiehlt sich bei drohenden Kursverlusten eine frühzeitige Umschichtung (z. B. durch Verkauf von US-Bonds).

  2. Das Vertrauen in den Bancor hängt wesentlich von seiner Verbreitung ab. Da mit Druck und Störaktionen der westlichen Seite zu rechnen ist, sollte der Geldverkehr zwischen den interessierten Staaten zügig und möglichst breit auf die neue Kunstwährung umgestellt werden.

  3. Indem alle relevanten Währungen gemäß der Wirtschaftskraft und dem Außenhandelspotenzial der jeweiligen Länder in den Bancor eingehen, ist eine hohe Stabilität bei geringer Schwankungsbreite gewährleistet. Größere wirtschaftliche Umwälzungen, etwa verursacht durch Preisänderungen bei Rohstoffen, bleiben nicht ohne Einfluss auf den Bancor-Kurs, sodass insbesondere bei langfristigen Handelsabkommen eine Absicherung gegen Währungsverluste empfehlenswert erscheint.

  4. Die regelbasierte Festlegung des Bancor-Werts bietet ein Bollwerk gegen Währungsspekulationen. Zwar eröffnen die periodisch erfolgenden Aktualisierungen der Währungskorbanteile Gelegenheiten für spekulative Tätigkeiten, jedoch ist deren Rahmen recht begrenzt.

Ein Beispiel:

Es sei angenommen, dass sich die Einnahmen der Erdöl exportierenden Länder infolge sinkender Preise halbieren. Beträgt ihr Anteil am Währungskorb zehn Prozent und werten ihre Währungen infolge der Exporteinbußen um durchschnittlich zehn Prozent ab, dann sinkt der Wert des Bancor im Vergleich zu den übrigen Währungen um ein Prozent. Wenn später der Anteil der Erdölexporteure am Währungskorb durch die Aktualisierung der Außenhandelsdaten auf fünf Prozent abrutscht, legt der Bancor wiederum um ein halbes Prozent zu. Beide Veränderungen dürften auf den Devisenmärkten vorweggenommen werden.

Konsequenzen für andere Währungen

  1. Wollen Staaten ihr Gewicht bei der Zusammensetzung des Währungskorbs erhöhen, so müssen sie ihren Export und ihr Dienstleistungsangebot vermehren und/oder Außenwirtschaftsüberschüsse erzielen.

  2. Geldschöpfung im großen Stil wird durch einen sinkenden Anteil am Währungskorb bestraft. Dadurch entsteht ein Zwang zu solidem Wirtschaften.

  3. Indem die Globaltradebank verpflichtet ist, nach einer Transaktion die durch den Währungskorb festgelegten Relationen wiederherzustellen, wird sie sich jeweils von einigen Währungen trennen und andere entsprechend erwerben. Abgestoßen werden allgemein Währungen, die in größerem Umfang entgegengenommen werden, als es ihrem Anteil am Währungskorb entspricht. Dies betrifft u. a. den US-Dollar.

  4. Infolge des Währungstauschs durch die Globaltradebank entsteht für die veräußerte Währung auf dem Devisenmarkt ein Überangebot, sodass ihr Kurs sinkt. Der voraussehbare weitere Wertverlust veranlasst Zentral- und Geschäftsbanken weltweit, sie baldmöglichst abzustoßen, woraufhin sich die Abwertung beschleunigt. Die Währung erreicht die Talsohle, wenn der Gesamtwert ihrer Geldmenge sich dem Anteil nähert, der ihr im Währungskorb in Relation zu den Beständen anderer Währungen zugeteilt wurde.

  5. Während einer Übergangsphase werden die Kurse unterbewerteter Währungen im Zuge der Umtauschaktionen steigen, während der Wert des Bancor weitgehend konstant bleibt. Spätestens wenn alle Währungen ihren durch wirtschaftliche Fundamentaldaten begründeten Kurs erreicht haben, ist damit zu rechnen, dass der Bancor zur Hauptreservewährung avanciert.

  6. Falls die westlichen Industriestaaten nicht mitziehen, muss für viele Länder weiterhin die Möglichkeit bestehen, ihren Bedarf beispielsweise an US-Dollar und Euro zu decken. Dies ist jedoch kein Problem, da ein Umtausch des Bancor in andere Währungen jederzeit gewährleistet ist.

  7. Als Folge verlieren die Währungen der westlichen Industrieländer insgesamt an Wert. Euro und Yen werden nur mäßige Einbußen erleiden, während sich die Position des südkoreanischen Won und des Taiwan-Dollar sogar verbessern kann. Die größten Verluste entstehen für die USA und für Großbritannien. Die zu erwartenden Kurseinbrüche des US-Dollar und des britischen Pfund lassen sich überdies kaum abfedern, da die für eine erfolgreiche Gegenwehr erforderlichen produktiven Kapazitäten fehlen.

Künftige Herausforderungen

Bei dem hier vorgestellten Modell einer Kunstwährung handelt es sich um kein detailliertes Gesamtkonzept, sondern um einen Vorschlag, der notwendig einer Konkretisierung und Weiterentwicklung bedarf. Zu den Themen, die im Text nur am Rande behandelt werden, gehört die Organisationsstruktur der Globaltradebank und die Zuteilung von Aufgaben und Kompetenzen an deren einzelne Organe. Auch muss ihre Tätigkeit finanziell abgesichert werden, wobei ferner zu entscheiden ist, ob an die Eigentümer Dividenden ausgeschüttet werden. Als möglicher Standort der Bank bietet sich Hongkong wegen dessen internationaler Atmosphäre sowie der hohen Anforderungen an Fach- und Sprachkenntnissen, Infrastruktur und Sicherheit an.

Die größte Herausforderung ist zweifellos die Schaffung von Vertrauen in die Werthaltigkeit des Bancor. Das Konzept muss überzeugen, und sowohl die Entscheidungsfindung als auch die Bemessungsgrundlagen müssen auf einem Höchstmaß an Transparenz beruhen. Am wichtigsten ist jedoch eine breite Anwendung der neuen Kunstwährung. Um hier zügig voranzukommen, bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung.

Trotz mancher Parallelen des hier vorgestellten Bancor mit den Sonderziehungsrechten des IWF bestehen gravierende Unterschiede. Weder werden Letztere an Devisenmärkten gehandelt, noch können sie im Zahlungsverkehr eingesetzt werden. Dennoch gelten sie als Guthaben, das einem Land das Recht gibt, innerhalb bestimmter Grenzen andere Währungen zu kaufen. Der zugrunde liegende Währungskorb setzt sich aus US-Dollar, Euro, japanischem Yen, britischem Pfund und chinesischem Renminbi zusammen. Als Bemessungsgrundlage fungieren neben dem Exportvolumen die in den jeweiligen Währungen gehaltenen Reserven. Letzteres versetzt die westlichen Industrieländer in eine privilegierte Position, sodass ihre Währungen fast 90 Prozent des Währungskorbs ausmachen. Allein der US-Dollar hat einen Anteil von etwa 42 Prozent.

Da ein zentrales Anliegen des hier vorgestellten Bancor die Beendigung der Dollardominanz ist, muss mit Widerstand aus Washington gerechnet werden. Der letztjährige Rückzug aus Afghanistan wie auch die Tatsache, dass 75 Prozent der Staaten mit 85 Prozent der Weltbevölkerung die Sanktionen gegen Russland nicht mittragen, dokumentieren ein Bröckeln der US-Machtposition. Wenn die Position des Dollar auf dem Spiel steht, ist allerdings zu erwarten, dass die US-Führung deutlich vehementer agiert.

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RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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