Meinung

Europarat: Politik ignoriert soziale Schieflage in Deutschland

Die Armut in Deutschland wächst. Das lässt die Zahl der Obdachlosen steigen, versperrt den Zugang zu sozialen Rechten, wie Bildung, und fördert Diskriminierung und Ausgrenzung. Der Europarat sieht die Bundesregierung in der Pflicht: Sie unternehme viel zu wenig gegen die Abwärtsspirale.
Europarat: Politik ignoriert soziale Schieflage in DeutschlandQuelle: www.globallookpress.com © www.imago-images.de

Von Susan Bonath

Armut, Wohnungsnot, Ausgrenzung: Wenn es um die Wahrung grundlegender sozialer Menschenrechte geht, kritisiert Deutschland gerne andere Länder. Doch die Schieflage im eigenen Land wird von der Politik am liebsten ignoriert. Diese habe sich zuletzt erneut zugespitzt, doch die Regierung unternehme viel zu wenig dagegen, rügte jüngst der Europarat.

"Soziale Rechte werden in Deutschland oft nicht als Grund- und Menschenrechte angesehen, die der Staat verwirklichen muss", kritisiert die europäische Menschenrechtskommissarin Dunja Mijatović in dem vor wenigen Tagen veröffentlichten neuen Bericht des Europarats. Ihr Zeugnis wirft ein miserables Licht auf den angeblich demokratischen Vorzeigestaat der EU. Eine besondere Schlagzeile war das den deutschen Leitmedien aber nicht wert.

Hetze statt Hilfe

Die Berichterstatterin mahnt insbesondere fehlende wirksame Strukturen in Deutschland an, die allen Einwohnern hinreichenden Zugang zu sozialen Grundrechten bieten. Die gravierendsten Mängel sieht sie beim Schutz vor Armut, Diskriminierung und Obdachlosigkeit. Die Lage auf dem Wohnungsmarkt spitze sich zulasten der ärmeren Teile der Bevölkerung immer weiter zu, ohne dass sich die Politik ausreichend bemühe, dem Abhilfe zu schaffen. Auch zu Bildung hätten Arme keinen angemessenen Zugang.

Der Europarat sei "besorgt" über eine hohe Zahl von Menschen in Deutschland, die in Armut lebten und von sozialer Ausgrenzung betroffen seien, heißt es. Dies stehe "in keinem Verhältnis zum Wohlstand des Landes". Die Einführung des Bürgergelds sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Allerdings gleiche der aktuelle politische und mediale Diskurs einer Hetzkampagne gegen arme Menschen. Öffentlich kolportiert werde vor allem das Narrativ, wonach Arme ausschließlich selbst schuld an ihrer Lage seien.

Ausgrenzung der Schwächsten

Strukturelle Probleme hingegen, die zu dauerhafter Verarmung und Ausgrenzung führten, würden weitgehend ignoriert. Dies treffe die Schwächsten: Behinderte Menschen litten in fast allen Bundesländern unter mangelnden Teilhabemöglichkeiten, Migranten und Flüchtlinge hätten vielerorts kaum Zugang zu Integrationsangeboten, wie etwa Sprachkurse. Das sozial angespannte Klima fördere zahlreiche Formen rassistischer und sozialer Diskriminierung, heißt es.

Dazu gehöre auch eine wachsende Kinderarmut, die wiederum Wege zur Bildung und sonstigen sozialen Teilhabe versperre und oft zu dauerhafter Armut führe. Das Kindeswohl stehe bei Behörden oftmals nicht im Fokus, Rechte für Kinder seien trotz mehrfacher Anläufe weiterhin nicht in das Grundgesetz aufgenommen worden. In den meisten Bundesländern gebe es keine politischen Ansprechpartner für das Thema Kinderrechte, beklagte die Kommissarin. Sie fordert sofortige Abhilfe:

"Alle relevanten Akteure sollten auf zwischenbehördlicher und interministerieller Ebene zusammenarbeiten, um den Zugang zu sozialen Rechten zu verbessern, und die Rechtsinhaber sollten frühzeitig über ihre Ansprüche informiert und beraten werden."

Ignoranz von oben

Der Sozialrechtsexperte Harald Thomé vom Verein "Tacheles" bekräftigte die Warnungen des Europarats und rügte: Statt sich um effektive Gegenmaßnahmen zu bemühen, gössen Bundesregierung und ein Teil der Opposition weiter Öl ins Feuer. Thomé erklärte:

"Der derzeitige Kurs der Regierung und der Opposition sorgt dafür, dass sich Armut, Elend und Menschenrechtsverletzungen stetig verschärfen."

So beinhaltet der kürzlich verabschiedete Haushalt für 2024 zahlreiche weitere Maßnahmen des Sozialabbaus. Trotz eines anderslautenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2019 führte das Parlament damit etwa die 100-Prozent-Sanktionen als Bestrafungsinstrument gegen Bezieher von Bürgergeld, ehemals Hartz IV, wieder ein. Das ließ schon 2005 den Andrang an den privat organisierten Tafeln sowie die Obdachlosenzahlen explodieren. Kritiker werfen der Regierung vor, das höchste Gericht, somit das Grundgesetz zu umgehen.

Kein Plan gegen Wohnungsnot

Dass die Obdachlosigkeit zunimmt, findet Thomé nicht verwunderlich. Mit dafür verantwortlich seien viel zu niedrig angesetzte Mietobergrenzen für Menschen, die auf Sozialhilfe, Grundsicherung im Alter oder Bürgergeld angewiesen sind. Sie fänden keine Wohnung, die vom Amt akzeptiert werde, weil es diese vielerorts schlicht nicht gebe, bemängelte er.

Kurzfristige Abhilfe sei hier nur mit einer Erhöhung dieser Obergrenzen zu erreichen. Langfristig sei ein groß angelegtes Programm für den Bau von Sozialwohnungen notwendig, so der Sozialrechtler. Auch die europäische Menschenrechtskommissarin pochte auf "umfassende und langfristige Maßnahmen". Die deutsche Regierung müsse "alle zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um Obdachlosigkeit zu verhindern und zu beseitigen". Notfalls müsse sie in den Wohnungsmarkt und in das Mietrecht eingreifen.

Bald Slums wie in den USA?

Besonderer Eifer beim Kampf gegen die Wohnungsnot ist in der Politik unterdessen nicht erkennbar. Sie hätte eigentlich schon längst mehr unternehmen müssen. Das Problem ist schließlich nicht erst seit der Bekanntgabe des neuen Berichts evident. Die Obdachlosenzahlen steigen bereits seit den 1990er-Jahren an. Kommunen verscherbelten ihre Wohnungen an Privatiers, andere verloren ihre Sozialbindung.

Ein wenig ähnelt die Entwicklung in Deutschland jener in den USA. Der dort seit den 1980er-Jahren exzessiv praktizierte neoliberale Kurs hat längst zu riesigen Slums und Elendsvierteln geführt. Um dies von Deutschland abzuwenden, bräuchte es wohl mehr als Lippenbekenntnisse.

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