Meinung

Großbritannien entsorgt die Magna Carta, um Graham Phillips zu strafen

Es ist schon etwas Eigenartiges mit diesem Kampf um eine "regelbasierte Weltordnung". In seinem Verlauf fällt ein grundlegendes Prinzip nach dem anderen. Das letzte, das geopfert wurde, lässt erkennen, dass es im Westen kein Recht mehr gibt.

von Dagmar Henn

Es gibt ein Dokument, auf das die Briten besonders stolz sind. Es ist die Magna Carta; unterzeichnet im Jahr 1215, ist sie das älteste noch gültige Verfassungsdokument weltweit. Natürlich bezogen sich die in der Magna Carta gewährten Freiheiten ursprünglich nicht auf alle Einwohner, sondern nur auf den Adel. Aber seit Jahrhunderten werden die darin verbrieften Rechte als Rechte aller Briten gesehen.

Die bedeutendste Bestimmung dieser Carta ist der Artikel 39, der die erste Formulierung dessen darstellt, was heute als Rechtsstaatsprinzip bekannt ist: "Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden. Noch werden wir ihm anders etwas zufügen, oder ihn ins Gefängnis werfen lassen, als durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch das Landesgesetz." Man kann aus der Formulierung "freier Mann" noch heraushören, dass die Leibeigenen nicht gemeint waren, aber die Leibeigenschaft endete in England bereits im 15. Jahrhundert, sodass seitdem alle Männer frei sind (und mittlerweile auch alle Frauen).

Dieser Artikel 39 ist den Briten heiliger als die Kirche von England. Und dennoch hat die britische Regierung ihn gerade gebrochen, auf eklatanteste Weise. Sie hat mit ihren letzten Strafmaßnahmen das erste Mal einen britischen Staatsbürger sanktioniert, den Reporter Graham Phillips – viele hier dürften zumindest Teile seiner Arbeit kennen, er berichtet seit 2014 aus dem Donbass – was bedeutet, sein Eigentum in Großbritannien wurde beschlagnahmt.

"Kein freier Mann soll (…) seiner Güter beraubt oder sonst angegriffen werden als durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch das Landesgesetz." Sanktionen sind reines Handeln der Exekutive; ein Regierungsbeschluss, der ohne einen Prozess, ohne Möglichkeit der Verteidigung, ohne Möglichkeit einer Berufung einen Bürger des eigenen Landes seiner Rechte beraubt.

Das schreibt die BBC zur Begründung: "Ihm wurden Kriegsverbrechen vorgeworfen, nachdem er den gefangenen Aiden Aslin gefilmt hatte und ihn als 'Söldner' und nicht als Kriegsgefangenen beschrieb. Regierungsbeamte sagten, dass der Besitz von Herrn Phillips eingefroren worden sei, da seine Medieninhalte geholfen hätten, 'die Ukraine zu destabilisieren'."

Aufnahmen von Kriegsgefangenen mit deren Zustimmung sind kein Verbrechen, nicht einmal ein Vergehen – und Aslin hat zugestimmt. Mehr noch, er war froh darüber und hat sich auch dementsprechend geäußert, weil solche Aufnahmen seine einzige Möglichkeit sind, Druck auf die britische Regierung auszuüben, die zwar groß tönt, das seien Kriegsgefangene und nicht Söldner, sich aber weigert, mit den Behörden der Donezker Volksrepublik auch nur in Kontakt zu treten. Und die rechtliche Definition, ob er nun Söldner war, ist nicht so ganz einfach, aber nach den Bestimmungen der Genfer Konventionen spricht mehr dafür, auch wenn die Briten das ungern hören.

"Destabilisierung der Ukraine" ist keine Straftat nach britischem Recht. Aber man ist kreativ heutzutage. Die BBC jedenfalls denkt nicht an Artikel 39 der Magna Carta, was allein schon belegt, wie sehr das britische Rechtsbewusstsein (und in diesem Fall auch das Nationalbewusstsein) auf den Hund gekommen ist.

Der Guardian formuliert das so: "Phillips – der erste Bürger des Vereinigten Königreichs, der der wachsenden Sanktionsliste hinzugefügt wurde – ist schon lange eine kontroverse Gestalt und hat Orden des russischen Staates für seine Berichte erhalten. Er ist dauerhaft der russischen Linie in Bezug auf den Krieg gefolgt, und hat in den letzten Wochen nahegelegt, dass die Ukraine von Nazis geführt wird und dass das Massaker an Ukrainern in Butscha eine Inszenierung war."

Nichts davon ist einem Journalisten verboten. Und wenn Phillips sagt, die Ukraine werde von Nazis geführt, sollte man hinzufügen, dass er selbst zweimal in Gefangenschaft geriet und dass er Dutzende von Interviews mit Opfern dieser Kiewer Herrschaft geführt hat. Erschütternde Interviews, wie das mit einer Witwe, deren Ehemann von der SBU, dem ukrainischen Sicherheitsdienst, zu Tode gefoltert wurde; ein Interview ohne Schnitte, eine Viertelstunde lang, ein Dokument, dessen Glaubwürdigkeit schwer anzufechten ist.

Die Begründung auf der Sanktionsliste selbst lautet wie folgt: "ein Videoblogger, der Medieninhalt produziert und veröffentlicht hat, der Handlungen und Politik unterstützt und fördert, die die Ukraine destabilisieren oder drohen, die territoriale Integrität, Souveränität oder Unabhängigkeit der Ukraine zu untergraben."

Das ist selbstverständlich nur dann eine schändliche Tat, wenn sich solche Handlungen gegen die Ukraine richten. Wäre das anders, müssten so gut wie sämtliche Vertreter in Russland tätiger britischer Organisationen sanktioniert werden; denn was tun sie anderes, als destabilisieren zu wollen, oder die Souveränität zu untergraben? Wo tun sie überhaupt etwas anderes? (Von ihren deutschen Gegenstücken kann man übrigens getrost das Gleiche sagen.)

Wie auch immer, das, was Phillips tut und getan hat, ist Berichterstattung, auch wenn die Richtung der britischen Regierung nicht passt. Tatsächlich ist es seinen frühen Berichten aus dem Jahr 2014 anzumerken, dass er eher aus Neugierde hineingezogen wurde, erst in den Maidan, dann in die Proteste im Donbass und letztlich in den Bürgerkrieg. Es war, am Anfang jedenfalls, handgemachter, naiver Journalismus, der sich einzig durch einen Faktor zum Politikum auswuchs: dass all die hochbezahlten Journalisten all der gut finanzierten Rundfunk- und Fernsehanstalten bereits 2014 eine wirkliche Berichterstattung über den Donbass verweigerten. Philipps war dort, wo die BBC nicht hinwollte – bis in die Schützengräben. Aber das ist das Versagen der BBC, nicht eine Bösartigkeit von Phillips.

Liz Truss, jene Dame, die momentan Außenministerin ist, aber gerade versucht, Boris Johnson als Premier zu beerben, äußerte sich ebenfalls zu der Sache. Und das sollte alle Briten bis ins Mark erschüttern, denn hier zeigt die mögliche künftige Regierungschefin des Landes ihre Sicht auf den Artikel 39: "Wir werden nicht still bleiben und zusehen, wie vom Kreml unterstützte Staatsakteure das Volk der Ukraine oder die Freiheiten ihres eigenen Volkes unterdrücken. Wir werden weiter harte Sanktionen gegen jene verhängen, die versuchen, Putins illegale Invasion zu legitimieren, bis die Ukraine siegt." Für immer also, oder, Frau Truss?

Noch einmal: Gegen jene, die versuchen, Putins illegale Invasion zu legitimieren. Bin ich froh, dass ich in Großbritannien nicht einmal eine Dose Katzenfutter besitze.

Die wahrscheinliche künftige Premierministerin des Vereinigten Königreichs erklärt also, dass sie vorhat, jeden, dessen Sicht auf den russischen Militäreinsatz ihrer oder der der NATO widerspricht, mit Sanktionen zu belegen, sprich, des Eigentums und sonstiger bürgerlicher Rechte zu berauben. Sie dürfte mit diesem Verlangen nicht allein stehen, auch in der EU dürften sich viele Freunde eines solchen Vorgehens finden, aber sie spricht es offen aus. Liz Truss tritt die Magna Carta mit Füßen.

Nun konnte man im Verlauf des Sanktionsrausches schon viele Rechtsgrundsätze im Gulli verschwinden sehen. Bis in die Grundlagen internationalen Handelns hinein. Aber mit diesem Akt, mit dieser einen Überschreitung, hat nicht nur Großbritannien, sondern der gesamte kollektive Westen sichtbar gemacht, was er wirklich von Menschenrechten hält. Der Artikel 39 ist nämlich nicht nur eine der ersten Ausformungen des Rechtsstaatsprinzips, sondern zugleich der erste dokumentierte Schritt des mittelalterlichen Europa in Richtung ausformulierter Menschenrechte.

Richtig, dieser Artikel 39, Frau Truss, der durch eine Exekutiventscheidung ohne Widerspruchsmöglichkeiten im Handstreich ausgehebelt wurde. Ein Recht, das über 800 Jahre alt ist.

Sollte sich noch irgendjemand fragen, welche demokratischen Rechte, welche der vermeintlich verteidigten Werte der Westen noch für seine Macht zu opfern bereit ist, dieser Akt in Großbritannien gibt eine deutliche Antwort: alle. Wenn ein Recht, das den Kern des Nationalstolzes darstellt und das seit 800 Jahren gültig ist, so beiläufig entsorgt wird, dann gibt es nichts mehr, auf das man sich verlassen kann. Das gilt nicht nur in Großbritannien.

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