Europa

Faktencheck "Holodomor", Teil 3: Gegen wen richtet sich diese Verleumdung wirklich?

Der Bundestag hat am 30. November nach jahrelang ablehnender Haltung beschlossen, die Hungersnot 1932/1933 in der Ukraine als Völkermord zu werten. RT DE beschäftigt sich in einer Artikelreihe mit den Ereignissen jener Jahre. In diesem Teil versuchen wir zu rekonstruieren, warum aus einer Missernte eine Katastrophe wurde.
Faktencheck "Holodomor", Teil 3: Gegen wen richtet sich diese Verleumdung wirklich?Quelle: Gettyimages.ru © Sergei Gapon/Anadolu Agency

Von Anton Gentzen

Hier ist Teil 1: Gefälschte Zahlen, verkannte Ursachen

Hier ist Teil 2: Eine präzedenzlose Verzahnung von Umständen

Wie viel Ackerfläche kann ein Bauer mit einem Traktor bestellen? Wie viel mit einem Zugpferd oder einem Zugochsen, wie viel mit Muskelkraft allein? Und wie viel, wenn man das zweite Jahr in Folge an den Grenzen der Leistungsfähigkeit ackern muss?

Im zweiten Teil der Reihe haben wir mit Statistik nachgewiesen, dass viele Bauern in Russland und der Ukraine vor ihrem teils mit administrativem Druck erzwungenen Beitritt zu einer Kolchos-Genossenschaft nach dem Motto "Dann soll dich niemand haben" ihre Arbeitstiere erlegten. Der Bestand an Pferden ging in kürzester Zeit auf weniger als die Hälfte zurück, der Bestand an Ochsen hat sich ebenfalls mindestens halbiert. Als die Partei nach wenigen Monaten zurückruderte und signalisierte, dass "Kolchosen" doch etwas Freiwilliges sind, traten die meisten Bauern aus. Die Arbeitstiere wurden davon nicht wieder lebendig.

Dritter Schritt zur Tragödie: Letzte Reserven aufgezehrt (1931/1932) 

Das erklärt, warum die Leistungsfähigkeit der sowjetischen Landwirtschaft ab Mitte 1930 rasant nachließ. Das Jahr 1931 wurde mit viel Kraftanstrengung noch halbwegs bewältigt, gerade diese Überanstrengung gab den Kräften und der Motivation der Bauernschaft aber offensichtlich den Rest. Die Bauern selbst hatten die eigene Fähigkeit, nach dem Austritt aus der Genossenschaft quasi von Null anfangen zu können, überschätzt. Nicht nur die aus den Kolchosen mitgenommenen Ernteanteile und alle Reserven wurden zwischen Sommer 1930 und dem Winter 1931/32 aufgezehrt, es ging offensichtlich auch an die Substanz: Den Winter 31/32 haben viele Bauern nur überleben können, indem sie die verbliebenen Nutztiere und sogar das Saatgut verzehrten.

Im Frühjahr 1932 jagte eine Hiobsbotschaft die nächste. Das Jahr begann damit, dass die Ernte der Winterkulturen weit hinter den Plänen blieb. Nach dem Start der Frühjahrsaussaat zeigte sich, dass große Teile der Felder unbeackert blieben und dort keine Aussaat erfolgte. Die Entscheidungsträger sahen das Problem in ungenügenden Vorräten der Bauern. Dass diese auch mit ihren physischen Kräften am Ende waren, konnte sich niemand vorstellen. Immerhin lag ein ganzes, scheinbar unproblematisches Jahr zwischen der abgebrochenen Kollektivierung und den nun auftretenden Problemen. 

Die Zentralregierung reagierte mit Hilfen für die Aussaat, in besonders großem Umfang gingen diese an die Ukraine. Hier eine unvollständige Aufzählung der Politbüro-Beschlüsse dazu aus dem Frühjahr 1932. 

Im März 1932 beschloss das Politbüro eine überplanmäßige Aussaathilfe für die Ukraine im Umfang von 0,7 Millionen Tonnen Saatgut.

Weitere außerplanmäßige 5.000 Tonnen Hafersaat wurden am 26. März 1932 bewilligt.

Schon am 4. April genehmigte das Politbüro weitere 20.000 Tonnen Hafersaat als außerplanmäßige Hilfe für die Ukraine. 

Einen Tag später bewilligte das Politbüro der Ukraine nochmals 200.000 Zentner (10.000 Tonnen) Saatgut aus zentralen Staatsreserven als zinslose Darlehen, mit erhoffter Rückgabe aus der kommenden Herbsternte. 

Am 19. April macht das Politbüro eine weitere Ausnahme zugunsten der Ukraine: Es genehmigte je 6.000 Tonnen Hirse und Buchweizen, außerdem 3.000 Tonnen Hirse als nicht rückzahlbare Lebensmittelhilfe für Kolchosen.

Am 23. April gibt das Politbüro 55.000 Tonnen Weizen aus dem Exportgetreide als Lebensmittelhilfe für die Ukraine frei.

So ging es das gesamte Frühjahr und auch im Sommer des Jahres 1932 weiter. Alles hier aufzuzählen, was an Hilfen floss, würde den Umfang eines Artikels sprengen, der ohnehin schon zum Dreiteiler wurde. Das Aufgeführte reicht aus, um sagen zu dürfen: Moskau hat nicht nur nicht versucht, die Ukraine auszuhungern, man reduzierte nicht nur immer weiter die Planvorgaben, sondern die Moskauer Zentrale bewilligte im Frühjahr und Sommer 1932 mehrmals aktiv Hilfestellungen, und zwar der Ukraine mehr als jeder anderen Republik der Union. Und das in einem Umfang, der unter normalen, bis dahin bekannten Umständen nicht nur das Überleben jedes Bauern, sondern auch die kommende Ernte hätte sichern können.

Dass das zentrale Problem ein anderes als der Mangel an Saatgut war, hatte niemand erkannt. Es wird ja auch bis heute nicht überall und restlos verstanden.

Die fantastische Mär von den abgeriegelten Dörfern  

In der Geschichte der Hungersnot 1932/33 existiert ein Element, das geradezu mysteriös ist. Wer die Antwort darauf findet, wird das Geschehen und seine Ursachen restlos aufgeklärt haben.

Stellen wir uns im Rahmen eines Gedankenexperimentes vor, einem Bauern wird tatsächlich alles, was er hat, weggenommen. Wird er, der eine Familie mit traditionell einem halben Dutzend Kinder zu versorgen hat, sich danach wirklich tatenlos zurücklehnen und auf den eigenen Hungertod und den seiner Nächsten warten? Wir reden hier – wie schon im vorhergehenden Teil erwähnt – von einer Zeit beispielloser landesweiter Mobilität aller Schichten. Das ganze Riesenland war in Aufruhr und Bewegung. Überall wurde händeringend nach Arbeitskräften gesucht, allein beim Moskauer Metrobau fehlten 40.000 Arbeitskräfte. Man nahm jeden, der sich bewarb. 

Wir kennen Tausende von Lebensberichten aus jenen Jahren. Kulaken, die hinter den Ural umgesiedelt wurden, machten sich ungehindert auf den Weg und irrten durch das Sowjetreich, bis sie sich für irgendeine Baustelle oder Fabrik anwerben ließen und sich so am neuen Ort legalisierten. Kriminelle Banden zogen durch das Land, sprichwörtlich vom Amur bis nach Odessa und zurück, bis in die fünfziger Jahre vermochten es Miliz und Sicherheitsdienst nicht, diesem Phänomen beizukommen. Legal oder illegal – in der Sowjetunion konnte man monatelang geradeaus gehen, ohne auch nur einem Uniformierten zu begegnen. Bahntickets gab es damals ohne Ausweis, diese neue Unsitte wurde erst in den 1990er Jahren eingeführt, im liberalen Russland. 

Und uns will man heute einreden, dass Millionen ukrainischer Bauern wehrlos ihrem Schicksal in ihrem Dorf oder der Einsiedelei ausgeliefert waren? 

Um diese offenkundige Plausibilitätslücke zu schließen, erfinden die Apologeten des "Holodomors" etwas, wovon es in Archiven keinerlei Spuren gibt: Ganze Armeen sollen – mal sind es Dörfer, um die Bauern einzusperren, mal sind es Städte, um die Bauern auszusperren – umstellt und niemanden mehr durchgelassen haben. Man versuche es sich vorzustellen, welchen Aufwand an Personal und Material das erfordern würde: Jedes der zehntausenden Dörfer abzuriegeln, bei Wind und Wetter, Frost und Sturm monatelang, im Dreischichtenbetrieb Tag und Nacht. Absurd, doch auch diese Absurdität hat Eingang in gewisse Lehrbücher gefunden.

Lässt man derartig infantile Allmachtsfantasien beiseite, gibt es nur eine plausible Erklärung, warum die Bauern in der Ukraine, an der Wolga, in Südrussland und anderswo im Herbst 1932 in ihren Dörfern blieben und keinerlei Anstrengung unternahmen, dem Tod zu entrinnen: Der Tod hatte sich eben gar nicht angekündigt. Keiner der Betroffenen hatte da schon die Befürchtung, im Winter hungern zu müssen.

Warum nicht? Nun, offensichtlich, weil man meinte, über genügend große Vorräte zu verfügen, um auch diesen Winter zu überstehen. Nicht reichlich zwar, denn Missernte und Naturalsteuer hatten zugeschlagen, aber eben genug. Die alles entscheidende Frage ist, wo diese Vorräte waren.

Vierter und finaler Schritt zur Tragödie: Tiefes Misstrauen, tiefe Erdlöcher (Frühherbst 1932)

Lassen wir uns auf ein weiteres Gedankenexperiment ein. Man stelle sich vor – und das ist bei einem radikalen Revoluzzer, wie Stanislaw Kossior einer war, nicht ausgeschlossen: Die ukrainische Parteiführung wittert im Herbst 1932 angesichts brachliegender Felder und einer schwachen Ernte bäuerliche Sabotage und führt gegen das eine oder das andere Dorf Strafaktionen mit rücksichtsloser Eintreibung der Steuerschuld durch. Man kann es nicht gegen alle Dörfer gleichzeitig unternehmen, dazu wäre selbst die Armee nicht groß genug. Die Kossior tatsächlich zur Verfügung stehenden Kräfte lassen ein gleichzeitiges Vorgehen nur gegen eine Handvoll Dörfer zu. 

Am nächsten Tag hat sich die Kunde von dem rabiaten Vorgehen der "Roten" wie ein Lauffeuer durch die ganze Region ausgebreitet. Und auch ganz ohne solch einen Anlass wird das Misstrauen der Bauern in jener Zeit groß wie nie gewesen sein. Was macht der Bauer in diesem Fall? Er versteckt einen Teil der Ernte und liefert einen anderen Teil ab. Er bringt das Getreide nicht zum Mahlen, denn an den Mühlen unterliegt es erstmals der staatlichen Erfassung. Er hebt Erdlöcher aus, irgendwo im Wald, an einer Stelle, die nur er kennt, und "lagert" das Korn (von Hand kann er nicht alles sofort zermahlen) in diesen Verstecken – wie er meint – "sicher" ein.

Was mit dem so eingelagerten Korn in zwei oder drei Monaten geschieht, ist letztlich nachrangig. Ob es verfault, von Mäusen und Würmern gefressen, von giftigen Pilzen befallen oder einer Kombination der drei Widrigkeiten zum Opfer gefallen ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass es den Bauern und seine Familie noch ernähren wird, ist äußerst gering. Die plausibelste Theorie ist, dass es einen Massenbefall mit Mutterkornpilz gegeben hat. Viele Schilderungen von Zeugen deuten auf Vergiftungssymptome, nicht auf einen Hungertod der Betroffenen. Es gibt amtliche Berichte über kollektive Vergiftungen ganzer Dorfgemeinschaften, die fälschlich auf unsachgemäße Handhabung von Schädlingsbekämpfungsmitteln zurückgeführt wurden.

Der Tod, den das Gift der Mutterkornpilze herbeiführt, ist tückisch: Es dauert Wochen, bis sich eine tödliche Menge des Giftes im Körper der Unglückseligen angesammelt hat. Die Symptome, die sie auf dem Weg dahin begleiten, vermag ein Betroffener und die Umgebung meistens nicht richtig einzuordnen. Man sitzt  ahnungslos in der Falle, bis es zu spät ist. 

Der Autor selbst tendiert zur Annahme einer Kombination unterschiedlicher Verläufe. Auch wenn ein Bauer im Winter festgestellt hat, dass sein "gut versteckter" Vorrat verfault oder von Schädlingen dezimiert war, saß er im Gegensatz zum Herbst in der Falle: Eine Umsiedlung war zu diesem Zeitpunkt deutlich schwerer und in vielen Fällen gar nicht mehr möglich.   

"Haltet den Dieb": Der Bundestag instrumentalisiert die Opfer der Hungersnot

Der Autor dieses Rückblicks stammt aus einer Familie, die selbst Opfer der Hungersnot der Jahre 1932 und 1933 zu beklagten hat. Die Erzählungen meiner russischen Oma darüber gehören zu den prägenden Erfahrungen meiner Kindheit. Unter anderem ihr Vater – mein Urgroßvater, ein Russe im rein russischen Teil der Region Saratow – ist den beschriebenen Weg in die Katastrophe gegangen und starb im Frühjahr 1933, vermutlich an Erschöpfung und Hunger. Sein Andenken und das Andenken eines jeden, der damals starb, sind mir und sind jedem Landsmann heilig. 

Der Deutsche Bundestag aber hat sich mit seinem unseligen Beschluss an den Opfern jener Hungersnot schamlos vergangen, so wie sich jeder, der dieses Andenken für tagespolitische, neokoloniale oder (im Falle der ukrainischen Machthaber) "nationenbildende" Zwecke instrumentalisiert, sich an ihnen vergeht. Aus einer sozialen Katastrophe wird wahrheitswidrig eine ethnische Kriegsführung konstruiert, die es nicht gab, schon gar nicht von Seiten des russischen Volkes.

Zu welchem Zweck? Um die Georgier aus der "zivilisierten Weltgemeinschaft" zu verbannen, weil Stalin Georgier war? Oder die Polen, weil der damalige ukrainische Parteichef Stanislaw Kossior, der Hauptverantwortliche des Ganzen, ein ethnischer Pole war? Natürlich nicht, das gesamte Konstrukt richtet sich einzig und allein gegen das russische Volk, das unter Stalin genauso Opfer und Mittäter war, wie die Ukrainer und andere sowjetische Ethnien. Und zwar weil man es auf seine Reichtümer abgesehen hat und selbst einen Genozid an ihm plant. Der Dieb schreit "Haltet den Dieb!" am lautesten.

Es gab keinen Genozid an den Ukrainern. Nicht nur deshalb nicht, weil auch Russen und Kasachen betroffen waren, sondern weil es schlicht keine vorsätzliche Herbeiführung jener Hungersnot gegeben hat. Nicht durch den Georgier Stalin, nicht durch den Polen Kossior, erst Recht nicht durch das russische Volk. Und "fahrlässigen Genozid" gibt es nicht, was auch dem Bundestag bewusst ist, der in der Begründung seiner Erklärung mit "politisch-moralischen" Wertungen um den eigentlichen Punkt herumeiert. 

Die Zahl der Ukrainer ist in den 70 Jahren der Sowjetmacht von 30 auf 50 Millionen gewachsen, übrigens trotz des von Deutschland zu verantwortenden tatsächlichen Genozids während des Zweiten Weltkrieges. Niemand hat die ukrainische Sprache und die ukrainische Kultur jemals so sehr gefördert wie die Sowjetunion. Ja, selbst die "unabhängige" Ukraine ist später in nahezu jedem relevanten Kriterium hinter die Sowjetzeiten zurückgefallen: Bei der Zahl in ukrainischer Sprache gedruckten Bücher, der Zahl ukrainischer Filme, der Qualität der Bildung, der Wirtschaftsleistung, und von der Zahl der Einwohner der Ukraine, die seit 1991 optimistischen Schätzungen zufolge um ein Viertel, pessimistischen gar um die Hälfte eingebrochen ist, ganz zu schweigen.

Das Narrativ ukrainischer Nationalisten, die eine ethnisch motivierte Unterdrückung der Ukrainer konstruieren wollen, ist nicht nur hinsichtlich des Mythos vom "Holodomor" eine unhaltbare Lüge. Wer darauf eine Nation errichten will, baut auf Sand. Wer das unterstützt, verfolgt teuflische Ziele.

Mehr zum Thema - Donbass – Das war auch nach deutschem Recht ein Genozid

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.  

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.