Nahost

Die Türkei ist eine tickende Migrationsbombe

In der Türkei tickt eine Bombe. Sollte die dortige Situation, die durch eine innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Gemengelage geprägt ist, eskalieren, könnte eine Migrationswelle über die EU strömen, die die bisherigen Fluchtbewegungen in den Schatten stellen würde.
Die Türkei ist eine tickende MigrationsbombeQuelle: AFP © SAKIS MITROLIDIS

Von Isaak Funke

Direkt an der Ostgrenze der Europäischen Union tickt eine Bombe, die die ganze Migrationsfrage drastisch verschärfen und das ganze soziale und politische Leben Europas heftig durchwühlen könnte. Es ist die Türkei. Relativ unbemerkt von den deutschen Mainstreammedien braut sich dort ein hochexplosives Gemisch an innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Umständen zusammen, das in den nächsten Jahren oder sogar Monaten in die Luft gehen könnte. Sollte dies passieren, würde eine Migrationswelle über Europa strömen, die die bisherigen Fluchtbewegungen in den Schatten stellen könnte.

Die in Europa noch bekanntere Herausforderung aus migrationspolitischer Sicht sind die zahlreichen Flüchtlinge in der Türkei, vor allem, aber nicht nur, aus Syrien. Offiziellen Zahlen zufolge leben über 3,7 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei – über vier Prozent der Gesamtbevölkerung. Nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 hatte die Türkei diese aufgenommen. Vermutlich hatte sich die Regierung erhofft, dass der syrische Präsident Baschar al-Assad durch die Aufständischen, die eifrig von der Türkei und den westlichen Mächten unterstützt worden waren, schnell gestürzt werden würde und so die Flüchtlinge wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten.

Diese Rechnung ging aber keineswegs auf: Zwölf Jahre später sitzt Assad immer noch fest im Sattel, und seine Gegner müssen sich inzwischen damit abfinden.

Die Flüchtlingswelle aus Syrien überforderte jedoch massiv die türkische Gesellschaft, die ohnehin durch soziale und wirtschaftliche Instabilität sowie durch krasse innere Gegensätze gezeichnet ist. Im Gegensatz zu Deutschland gab es in der Türkei nie eine Euphorie über die Aufnahme der Flüchtlinge, und im Verlauf der Jahre verschlechterte sich die Stimmung immer weiter. Inzwischen ist die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft eindeutig gegen den weiteren Aufenthalt der Flüchtlinge in der Türkei. Dieses Thema hat auch großen Einfluss auf den allgemeinen politischen Diskurs im Land. Alle Parteien und Politiker müssen Stellung beziehen. So überrascht es nicht, dass die Hauptkandidaten durch Antiflüchtlingsrhetorik auffielen. Der sozialdemokratische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu etwa verkündete, dass er alle Flüchtlinge nach Hause schicken wolle. Davon erhoffte er sich, Stimmen im ultranationalistischen Lager einzufangen. Auch die Regierung selbst beteuert immer wieder, Pläne zu haben, die Flüchtlinge wieder nach Syrien zurückzuführen. Ihre illegalen militärischen Operationen dort begründet sie zum Teil damit. In der ersten Runde der türkischen Wahlen konnte der rechtsextreme Kandidat Sinan Oğan mit 5,2 Prozent einen Achtungserfolg erzielen.

Viele syrische Flüchtlinge in der Türkei wollen aufgrund der Situation weiterziehen, sie sind eingeschüchtert und empfinden Hilflosigkeit. Syrer, die mit westlichen Medien sprechen, berichten von Anfeindungen auf der Straße, wenn sie Arabisch sprechen, und von Schikanen gegen ihre Kinder in der Schule. Umfragen zufolge sind es inzwischen 60 Prozent, die das Land in Richtung Europa verlassen wollen. Die Türkei war ohnehin für viele nur eine Notlösung. Das beliebteste Zielland ist Deutschland.

Es gibt jedoch in der Türkei noch eine zweite Herausforderung für die westliche Migrationspolitik – und das ist die zunehmende Anzahl an Türken, die mit der Situation in ihrer eigenen Gesellschaft und/oder ihren persönlichen Umständen unzufrieden sind und ein besseres Leben im Ausland suchen wollen. Während die Anfangszeit der Regierung des jetzigen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan allgemein von wirtschaftlichem und sozialem Aufschwung geprägt gewesen war, kam es Anfang der 2010er-Jahre zu einer Verlangsamung des Fortschritts und in den letzten Jahren sogar zu einer dramatischen Verschlechterung. Die Regierung kann die Inflation nicht kontrollieren, viele Türken wissen nicht, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Die Mieten explodieren. Dieser Trend lässt sich vor allem in unter Ausländern beliebten Städten wie Antalya beobachten, wo jetzt viele ukrainische und russische Oligarchen und Superreiche ihre Zelte aufgeschlagen haben. Dort sind die Mieten um ein Vielfaches der Vorkriegswerte gestiegen. Zwar hat die Regierung für Bestandsmieten die jährliche Erhöhungen auf 25 Prozent begrenzt, aber diese Regelung gilt nicht für neu abgeschlossene Verträge.

Die Wiederwahl Erdoğans hat einen beachtlichen Teil der türkischen Gesellschaft entmutigt. Sie sehen in ihrem eigenen Land keine Zukunft mehr – zum einen aufgrund der wirtschaftlichen Umstände, zum anderen aber auch wegen einer befürchteten weiteren Islamisierung des Landes. Während in den vergangenen Jahrzehnten vor allem die Unterschichten den Weg der Emigration wählten, um dem Traum eines besseren Lebens nachzugehen, sind es jetzt fast alle Bevölkerungsschichten. Die Verschlechterung der ökonomischen Situation sowie die Inflation treffen auch die Mittelschicht, die Intellektuellen und die kleinen Gewerbetreibenden hart.

Vor allem die jüngere Generation der gut ausgebildeten Türken sieht keine Perspektive im eigenen Land mehr und sucht nach Auswegen. Vorerst beschränken sie sich – im Gegensatz zu anderen Bevölkerungsschichten, etwa den Kurden, die Repressionen ausgesetzt sind – auf legale Möglichkeiten der Emigration. Sollte sich aber die Situation in der Türkei weiter verschlechtern, dürfte das zu einer gewaltigen Explosion der Anzahl der illegalen Migranten aus der Türkei führen.

Diese beiden Pulverfässer lassen sich schon seit einigen Jahren beobachten. Jedoch unternimmt die deutsche Politik nichts, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Statt etwa eine politische Lösung in Syrien zu befördern, wird immer noch hart die Linie durchgesetzt, dass es mit Assad keine Verhandlungen geben dürfe, obwohl inzwischen sogar die reaktionären arabischen Golfmonarchien davon abgekommen sind. Auch gegenüber der Türkei verfolgt die selbstgerechte deutsche herrschende Politik eine moralisierende Linie, die die bestehenden Probleme verleugnet oder kleinredet. So unsympathisch Erdoğan auch sein mag, ihn hat eine Mehrheit seines Volkes gewählt. Jedenfalls hat er die Regierungsgewalt inne. Statt jedoch der Türkei zu helfen, ihre wirtschaftlichen Probleme zu bewältigen, fordern immer mehr westliche Politiker, die türkische Regierung weiter zu bestrafen und zu isolieren. Die türkische Regierung selbst spricht von westlichen Mächten, die versuchen, sie wirtschaftlich zu sabotieren, etwa durch eine Schwächung der Lira. Wenn die westlichen Staaten die nächste Flüchtlingskatastrophe verhindern möchten, müssen sie schnell handeln und ihren Kurs ändern.

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