Meinung

Die Washington Post und die "Querfront" ‒ Verschwörungstheorie oder Geständnis?

Und schon ist es wieder soweit, und die Freunde echter ukrainischer Nazis verteilen "Nazi"-Etiketten an ihre Gegner wie Karnevalsprinzen Kamelle. Nur, weil sich vielleicht doch noch eine breitere Friedensbewegung in Deutschland finden könnte.
Die Washington Post und die "Querfront" ‒ Verschwörungstheorie oder Geständnis?© IMAGO

Von Dagmar Henn

Die Washington Post (WP) hat, wie viele andere Zeitungen, ein Motto auf ihrem Titel: "Democracy dies in darkness", die Demokratie stirbt in der Dunkelheit. Mittlerweile sollte die Zeitung es eigentlich ergänzen: Die Demokratie stirbt in der Dunkelheit, die wir verbreiten.

Vor einigen Tagen veröffentlichte die WP einen Artikel, der ein mögliches Bündnis zwischen Sahra Wagenknecht und der AfD skandalisierte, dessen Grundgedanken weithin aufgegriffen wurden, bis hin zur Tagesschau. Russische Dienste betrieben ein solches Bündnis, wird darin behauptet, auch wenn das Blatt zugeben muss, keinerlei Beweise zu haben, dass die in Russland stattgefundenen Debatten irgendeinen praktischen Kontakt zu deutscher Politik haben. Wenn man genauer hinsieht, verrät dieser Artikel allerdings noch ganz andere Dinge.

Aber beginnen wir mit der skandalisierten Grundüberlegung, die tatsächlich nur eine Funktion erfüllt: bei der politisch mäßig gebildeten deutschen Linken die nötigen Stichworte anzubringen, um damit jeden in Verruf zu bringen, der sich gegen die NATO-Politik stellt. Denn schon die Grundannahme, dass ein solches Bündnis verwerflich sei, übergeht historische Musterfälle.

Der Erste ist das überaus komplizierte Verhältnis zwischen de Gaulle und der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF), die im Maquis dominierte. De Gaulle, der vor der Besetzung Frankreichs durch die Nazi-Wehrmacht Mitglied der französischen Faschisten gewesen war, aber zu jenem Teil gehörte, der sich nicht Berlin unterordnen wollte, und aus dem Londoner Exil zur Führung des Widerstands gehörte, hatte über Jahrzehnte hinweg ein fragiles, auf wechselseitigem Respekt beruhendes Bündnis mit der KPF, die ihm mindestens zweimal das Amt rettete und seinen Sturz verhinderte. Symbolisiert wird diese Kooperation vielleicht am besten durch seinen Einzug in Paris 1944, bei dem er ein Gedicht des kommunistischen Autors Louis Aragon vortrug. Der verbindende Faktor zwischen beiden Partnern war die französische Souveränität.

Ein anderes Beispiel wäre das Nationalkomitee Freies Deutschland sowie diverse Strukturen des deutschen Widerstands, die tatsächlich, wenn man das ganze Umfeld von 20. Juni bis Roter Kapelle betrachtet, ein Bündnis darstellten, das alle umfasste außer den Nazis, von Konservativen bis Kommunisten. Genau darin liegt das Problem dieses Begriffs "rechts", dass er eine Grenzziehung zwischen Konservativen und Faschisten unmöglich macht (obwohl diese Grenze ideologisch wie praktisch verglichen mit dem fließenden Übergang zwischen Neoliberalismus und Faschismus geradezu der Chinesischen Mauer gleicht).

Da man davon ausgehen kann, dass diese historischen Fakten auch in Russland bekannt sind, ist es eigentlich keine Meldung, dass in Russland darüber diskutiert wird, und es wäre nicht einmal nötig, das hinter geschlossenen Türen zu tun. Eigenartig ist eher, dass dies in Deutschland nicht geschieht. Schließlich ist objektiv (auch wenn die WP das nie schreiben würde) spätestens seit dem Anschlag auf Nord Stream jegliche deutsche Souveränität Geschichte, und es gibt handfeste ökonomische Gründe, im gegenwärtigen Kurs der Bundesregierung ein Verhängnis für Deutschland zu sehen, sowohl was den blinden Gehorsam gegenüber den USA als auch was die industrielle Grundlage angeht, als auch was die Beziehungen zu Russland betrifft, das ein unverzichtbarer Partner wäre, sollte eine deutsche Regierung beabsichtigen, als souveräner Staat einen Platz in einer multipolaren Welt zu finden.

Nun, in der Weltsicht der Washington Post gibt es keine originären politischen Bewegungen.

"Demonstranten, die an Protestmärschen teilnahmen, die jeden Montag in Leipzig und Neustrelitz abgehalten wurden, trugen Losungen, die von Kreml-Strategen entworfen wurden, und forderten in Leipzig: 'Nord Stream 2 sofort starten!' 'Die antirussischen Sanktionen aufheben!' und 'Senkt die Strompreise!'. In Neustrelitz erklärten sie: 'Wir wollen leben und nicht nur überleben!' und 'Womit werden wir im Winter heizen?'"

Es ist kein derart gewaltiger intellektueller Kraftakt, zu einer Forderung wie "Senkt die Strompreise!" zu kommen. Im Gegenteil, alle oben zitierten Losungen könnten jedem mühelos in den Sinn kommen, der nicht mit grünen Scheuklappen in die Welt schaut und imstande ist, seine Strom- und Gasrechnung zu lesen. Für die Washington Post sind das allerdings "Losungen, die von Kreml-Strategen entworfen wurden".

Wenn das keine Wahnvorstellungen sind, dann kann es nur noch eines sein – Projektion. Und da fängt es an, interessant zu werden. Denn immerhin machte man gerade im Verlauf der letzten Jahre massive Erfahrungen mit Astroturfing im Westen, auch in Deutschland. Zur Erinnerung: Im Englischen nennt man aus der Bevölkerung heraus gewachsene Bewegungen "grassroot movements", Graswurzelbewegungen; AstroTurf ist der größte US-amerikanische Hersteller von Kunstrasen. Astroturfing sind also Bewegungen, die nur natürlich scheinen, wie beispielsweise "Fridays for Future" oder die Klimakleber oder auch Farbrevolutionsbewegungen, wie der Maidan, die durch überdimensionierte Bühnen verraten, dass hier mit viel Geld aufgeblasen wurde.

Astroturfing-Bewegungen haben selbstverständlich Losungen, die vorab von Werbeagenturen entworfen wurden, wie auch deren Logos; aber Astroturfing-Bewegungen sind in der Regel an einem Punkt leicht zu erkennen – sie haben eine feste Führung, aber keine demokratischen Strukturen. Und meist muss man nicht allzu tief recherchieren, um auf die Geldgeber zu stoßen.

Die montäglichen Märsche, die die Washington Post anführt und die in hunderten Orten stattfanden, hatten größtenteils gar keine Führung ‒ Hauptsache, es fand sich jemand, der den Marsch anmeldete.

Die WP gibt sogar zu, dass sie keinerlei Belege für einen tatsächlichen Einfluss russischer Dienste hat, aber führt ihre Leser geschickt in die Irre: "Die Strategen hofften, die Demonstrationen als Gelegenheiten zu nutzen, um ihre eigenen Pläne voranzubringen, sagte ein Sicherheitsmitarbeiter, der mit den Dokumenten vertraut ist, und fügte hinzu, sie könnten einige dieser Proteste angestoßen haben."

Genau. Die Heizkosten schießen in astronomische Höhen, aber die kreuzbraven und lendenlahmen Deutschen brauchen russische Anstifter, um sich zu Protesten aufzuraffen? So verblödet hätte die WP die deutsche Bevölkerung gern, nur mit der Wirklichkeit hat das wieder einmal wenig zu tun.

Jedenfalls kann man festhalten, dass die WP sich keine, auf realen Interessen beruhende, originäre politische Bewegung vorstellen kann. Nebenbei, das ist nicht nur bei der WP so, da befindet sie sich in bester Übereinstimmung mit Äußerungen des deutschen Verfassungsschutzes wie auch jener pseudolinken Berufszensoren, die ihre Zeit damit verbringen, mithilfe von Fotos und falschen Definitionen politische Vorwürfe zu kreieren.

Nun gibt es allerdings eine ganze Menge mehr oder weniger politischer Organisationen in Deutschland, neben dem bekannten Astroturfing und dem, was die WP für das Werk russischer Agenten hält. Diese Vielfalt an Organisationen müsste eigentlich innehalten lassen und die Beantwortung einer Frage erforderlich machen: Warum hält die WP die Demonstrationen in Neustrelitz und Leipzig für das Werk von Agenten (oder tut zumindest so), hält es aber nicht für nötig, diese Frage auch nur zu argumentieren? Kriterien zu geben, die darauf hinweisen, dass politische Organisationen manipuliert sind, wie oben im Absatz über Astroturfing beispielsweise?

Das ist nun der kitzlige Punkt. Klar, das Interesse in solchen Artikeln liegt auf Organisationen oder Bewegungen, wie klein auch immer, die nicht der NATO-Linie folgen. Das ist allerdings kein Beleg für Manipulation oder Nichtmanipulation, sondern einzig ein Beleg dafür, dass es nicht die NATO und deren Dienste sind, die hier manipulieren. Es ist auch kein Beleg dafür, dass die Pro-NATO-Haltung nicht das Ergebnis von Manipulationen ist.

Klar, die Behauptung, politische Bewegungen seien von Russland gelenkt, ist ein zentraler Punkt der aktuellen westlichen Propaganda, und, nebenbei bemerkt, der demokratiefeindlichste davon (da Demokratie nur funktionieren kann, wenn die vorhandenen Positionen als gegeben akzeptiert werden; sobald die Sicht dominiert, einzelne Punkte seien echt, andere nicht, sind Verhandlungen und Kompromisse unmöglich, womit die demokratischen Prozesse im Kern tot sind). Aber wenn man mit solcher Absolutheit behauptet, bestimmte politische Überzeugungen seien das Ergebnis externer Manipulation, genauer, externer Manipulation, die einem geopolitischen Gegner zugeschrieben wird, und in der Darstellung die nicht unbedeutende Frage nach originärer politischer Bewegung gar nicht auftaucht, dann gibt es eine Bedingung, unter der so etwas tatsächlich geglaubt wird (und es gibt leider deutliche Hinweise darauf, dass die Verbreiter solcher Behauptungen es wirklich glauben): dass alle anderen Organisationen, Bewegungen und Strukturen unter der eigenen Kontrolle sind.

Die WP ist nicht gerade ein der US-Buchstabensuppe fernstehendes Medium, im Gegenteil, sie spuckt in der Regel aus, was die Buchstabensuppe gedruckt sehen will. Wir reden hier nicht von den Ergebnissen von Recherchen, sondern von Informationen, die zum Zwecke der Veröffentlichung aus der Buchstabensuppe durchgestochen wurden, um verschiedene Ziele zu erreichen. Das Ziel, das mit diesem Artikel erreicht werden soll, ist klar. Jene Teile möglicher Wagenknecht-Anhänger abzuschrecken, die die Funktion des "Querfront"-Vorwurfs immer noch nicht durchschaut haben, und Wagenknecht selbst, die als konfliktscheu bekannt ist, zu einem Dementi zu bewegen, das die objektiv nötige Sortierung der deutschen Opposition erschwert.

Ein Musterbeispiel für diese Vorgehensweise lieferte jüngst auch das Neue Deutschland (ND), seit Jahren Sprachrohr des rechten Flügels der Linkspartei, der inzwischen ganz in den Armen der NATO angekommen ist. Weil Jürgen Elsässer auf der vom Ostdeutschen Kuratorium von Verbänden (OKV) organisierten Friedenskonferenz anwesend war – wohlgemerkt, nur anwesend, kein Referent –, ist das gleich Anlass, um die Räume des OKV im ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz in Frage zu stellen. So, wie in dem Artikel der WP Ralph Niemeyer, der Ex-Ehemann von Sahra Wagenknecht, genutzt wird (oder sich nutzen lässt), um die gewünschte Aussage zu erreichen, so ist es in diesem Fall Jürgen Elsässer, der bereits seit 2014 die Rolle spielt, wo immer es gewünscht ist, einen Anlass für Verdächtigungen zu liefern. Bei beiden ist eine Tätigkeit für russische Dienste eher unwahrscheinlich, weil sie sich in den letzten Jahren schlicht als gar zu nützlich für die westliche Seite erwiesen. Nachdem niemand im OKV wusste, wie Elsässer von der Veranstaltung, die auf persönliche Einladung erfolgte, erfahren konnte, stellt sich die Frage, ob nicht die Rosa-Luxemburg-Stiftung oder andere Exponenten des NATO-freundlichen Flügels der Linkspartei Herrn Elsässer informierten, um auf diese Weise den Stachel im Fleisch zu entfernen, den sie im OKV sehen.

Nun ist der OKV eines der wenigen, weitgehend unbeeinträchtigten Reststücke der ursprünglichen deutschen Linken, wenn auch womöglich nur, weil die Mitgliedschaft der Verbände eine starke DDR-Bindung hat und die Wendung ins Woke nicht mitvollzog (andere Organisationen, wie die VVN, wurden in den letzten Jahren erfolgreich auf NATO-Kurs gebracht). Und weder den ehemaligen NVA-Militärs noch Rainer Rupp könnte man auch nur ansatzweise glaubwürdig unterstellen, "rechts" zu sein. Was die Konferenz tatsächlich besprach, lässt sich im Internet betrachten. Darüber lässt sich das ND wohlweislich nicht näher aus. Aber es ist wie mit dem Artikel in der Washington Post. Eine wirkliche, offene Debatte um die Fragen, die über die deutsche Zukunft entscheiden, wird mit allen Mitteln sabotiert.

Wobei natürlich die vielfachen Strippen, an denen die deutsche Politik hängt, genau so lange halten, wie die Machtposition des Strippenziehers hält, und auch die vielfachen Beeinflussungen im Inneren durch sechzehn Verfassungsschutzämter und hunderte Stiftungen nur funktionieren, solange das Geld fließt. Bis dahin jedoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass ein Ende dieser allgegenwärtigen Einflussnahmen eine notwendige Voraussetzung dafür ist, in Deutschland überhaupt wieder von einer Demokratie sprechen zu können. Und es ist nicht Russland, das die Demokratie in Deutschland stranguliert.

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