Meinung

"Keinen Euro für den Krieg" – Ansätze einer neuen Friedensbewegung

Die Welt ist in einem erbärmlichen Zustand. Aber es gibt keinen Weg zurück in vermeintlich gute alte Zeiten. Die Menschheit ist verurteilt, nach vorne zu gehen. Dieser Weg führt nicht über die Werteorientierung sondern über das Erkennen der eigenen Interessen und entschiedenes Eintreten für diese.
"Keinen Euro für den Krieg" – Ansätze einer neuen FriedensbewegungQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Christoph Hardt

Von Rüdiger Rauls

Wirklichkeit als Ausgangspunkt

Wenn die Lebensgrundlagen auf dem Treibsand der Veränderung zusammenzubrechen drohen, verstärkt sich die Suche nach gesicherten Fundamenten für die Gestaltung der Zukunft. Dabei suchen viele nach Lösungen bei Denkern und Philosophen vergangener Zeiten. Wieder andere nehmen Anleihen bei Religionen, Sekten, den Glaubenswelten anderer Kulturen oder der Esoterik, was gerade mal eben Konjunktur hat.

Die meisten Menschen jedoch suchen in unsicheren Zeiten Halt in Entwürfen für die Zukunft. Sie schaffen Modelle über eine zukünftige, eine erstrebenswerte Welt, die sich deckt mit den eigenen Idealen und Werten. Solche Denker werden oft als Visionäre bezeichnet. Aber ihre Visionen halten meistens nicht lange und werden oft sehr schnell ersetzt durch neue Visionen neuer Visionäre.

All diesen Ansätzen ist gemeinsam die Verweigerung der Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Analyse und Verstehen der Gegenwart wird ersetzt durch die Schaffung von Gegenwelten. Weltbilder, entnommen aus der Vergangenheit oder Zukunft, werden als Ersatz angeboten für die unbefriedigende aktuelle Welt.

Aber gerade die Gegenwart ist der Zustand, wo die Vergangenheit Zukunft werden will. In ihr werden die Erfahrungen der Vergangenheit umgewandelt in die Möglichkeiten der Zukunft. Nur in der Gegenwart herrscht die Wirklichkeit, das heißt die Summe all jener Kräfte, die in einer Situation wirken und diese bestimmen. Deshalb ist auch nur die Gegenwart gestaltbare Wirklichkeit.

Natürlich ist es sinnvoll, sich über die Entwicklung der Welt und unseres Lebens Gedanken zu machen. Aber es macht nur Sinn, zu erkennen zu versuchen, wie die Welt tatsächlich ist. Denn im Erkennen der Wirklichkeit liegt auch schon die Antwort darauf, wie die Welt im Begriffe ist, anders werden zu wollen. Wohin will die Menschheit und welche Strecke wurde auf diesem Weg bereits zurückgelegt? Was ist der Zug in dieser Entwicklung und worauf deutet er hin?

Wirklichkeit und Wahrheit

Dabei ist das Erkennen der Wirklichkeit der schwierigste Teil der Übung. Denn der Mensch betrachtet die Welt nicht vorurteilsfrei, sondern durch die Brille seines Weltbildes. Das ist normal. Aber die Frage ist, ob man das eigene Weltbild in Frage stellt, wenn es nicht zur Welt passt oder   werden Widersprüche zurechtgebogen nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf?

Bis zu Kopernikus und Galilei galt die Erde den Menschen als Scheibe und als Mittelpunkt des Universums, um den sich alle anderen Himmelskörper zu drehen schienen. Und da über die Jahrhunderte sich dieses Weltbild als richtig erwiesen zu haben schien, waren Zweifel nicht angebracht. Ähnliches galt auch für die Theorie des früheren US-Notenbankchefs Alain Greenspan, dass mit der Geldpolitik die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus überwunden worden sei.

Aber die Entwicklung des Menschen schreitet voran und bringt zum Einsturz, was als unerschütterliche Wahrheit galt. Heute weiß jeder, dass die Erde keine Scheibe ist und auch nicht der Mittelpunkt des Universums. Und auch Greenspans frohe Botschaft von der heilsamen Wirkung der Geldpolitik hat sich herausgestellt als das, was sie war: (Selbst)Täuschung. Die Wirklichkeit hat all diese unerschütterlichen Wahrheiten in einen Scherbenhaufen verwandelt.

Wirklichkeit ist nicht gleich Wahrheit, aber die Wahrheit will Wirklichkeit werden. In der Auseinandersetzung um den Irakkrieg hatten sich in der Welt die Kräfte durchgesetzt, die unter Verwendung von Halbwahrheiten und Lügen auf den Krieg hinarbeiteten. In dieser Situation waren Lüge und Täuschung die Wirklichkeit, nicht die Wahrheit.

Der Kapitalismus ist die wirtschaftliche Grundlage der meisten Gesellschaftssysteme auf unserem Planeten. Das ist die Wirklichkeit, in der die Mehrheit der Menschen lebt. Die Wahrheit aber ist, dass er mit all seinem Reichtum immer weniger in der Lage ist, den Bedürfnissen der Menschheit gerecht zu werden. Das bezieht sich nicht nur auf die materiellen Lebensgrundlagen.

Er ist auch immer weniger in der Lage, dem schöpferischen Potential der Menschen, ihrer Genialität Raum zu geben. Er bietet ihnen immer weniger Ausblick in eine Welt, in der gerade diese menschliche Schaffenskraft der gesellschaftlichen Entwicklung neuen Schub geben und neue Kräfte freisetzen könnte. Es bedarf der genauen Beobachtung, sachlicher Analyse und der ehrlichen Deutung der Vorgänge in der Welt, um die Frage zu beantworten: "Wohin wollen sich die Menschen und ihre Gesellschaften entwickeln?"

Ja, es geht um die Menschenrechte. Das ist die Wahrheit, die Wirklichkeit werden will. Aber für die einen bedeuten sie das Recht auf gesicherte Lebensgrundlagen und Aufbau eines bescheidenen Wohlstands nach den eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Für die anderen, die Wertemissionare, geht es darum, die eigenen Ideale dem Rest der Welt als Richtschnur aufzuzwingen.

Bei solch einem Vorgehen haben diese Werte nichts Befreiendes, denn sie schließen aus, wer sich ihnen nicht unterwirft. Die westlichen Werte sind ein Mittel der Ausgrenzung. Sie sind die Grundlage für die Anmaßung, sich moralisch über andere zu erheben und die eigenen Bedürfnisse über den Rest der Menschheit zu stellen. Diese Haltung richtet sich nicht nur gegen andere Staaten sondern auch gegen Andersdenkende in der eigenen Gesellschaft. Das ist die Wirklichkeit.

Hoffnungsträger

Gerade die Entwicklung der Grünen und manch anderer ehemaliger Friedenstauben hin zu den heftigsten Befürwortern von Waffenlieferungen, zeigt die Fragwürdigkeit von Werteorientierung. Werte sind für viele weniger Richtschnur für eigenes Handelns sondern in viel stärkerem Maße Grundlage ihres Selbstverständnisses von der eigenen moralischen und intellektuellen Überlegenheit.

Doch trotz dieser eingebildeten Überlegenheit erkennen jene aber nicht, dass auch Werte dem Wandel unterliegen. Im Feudalismus, der Vorgängergesellschaft des bürgerlich-kapitalistischen Systems, waren andere Werte erstrebenswert als die heutigen – beispielsweise die Gottgefälligkeit. Wer sich selbstgefällig über das damalige Denken erhebt, übersieht, dass er jene Werte von heutigem Bewusstsein aus beurteilt und dass dazwischen Jahrhunderte geistiger Entwicklung liegen. Vielleicht schütteln spätere Generationen den Kopf über die Verblendung der heutigen Werteorientierten.

Wer aber die Zeichen der Zeit nicht erkennt, taugt nicht als Hoffnungsträger. Und die heutige Welt hat sie bitter nötig. Die Hoffnungsträger  einer neuen Zeit ist jene gesellschaftliche Gruppe, die in den öffentlichen Diskussionen heute kaum noch in Erscheinung tritt weder als Thema noch als Vertreter. Das sind jene Menschen, die sich abgewendet haben von den Selbstdarstellern und der allgegenwärtigen Rechthaberei und Besserwisserei im Meinungstohuwabohu.

Das sind jene Menschen, die durch ihre alltägliche, zuverlässige und unauffällige Arbeit dafür sorgen, dass die Gesellschaft funktioniert. Jene Menschen, die ohne zänkische Diskussionen, aber durch selbstverständliches Handeln dafür sorgen, dass Busse und Züge fahren, Häuser gebaut, Kranke geheilt, Abflussrohre freigemacht werden und Brötchen pünktlich in der Auslage liegen.

Jene Menschen wurden in früheren Zeiten als das Proletariat bezeichnet. Sie verstanden sich als eigene Klasse, die sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Macht bewusst ist. Ihre Kraft kam aus ihrem politischen Bewusstsein. Dieses Klassenbewusstsein beruhte auf Bildung und dem Wissen über den Lauf gesellschaftlicher Entwicklung. Zur Verfolgung seiner Interessen hatte sich das Proletariat eigene Organisationen geschaffen. Besonders die kommunistischen Parteien gaben Orientierung über die eigene Klasse hinaus. Diese Fähigkeit haben sie mittlerweile verloren.

Das Proletariat existiert zwar immer noch, gleicht aber nicht mehr jenen verelendeten Malochern, die in den Zeiten von Marx und Engels zu Tausenden die Fabrikhallen des frühen Kapitalismus bevölkerten. Dennoch ist die Lohnabhängigkeit als das wesentliche Merkmal des Proletariats bei den meisten Menschen nicht überwunden. Weltweit sind es eher mehr geworden.

Das Proletariat hat eine praktische Sicht auf die Welt. Diese ist geprägt durch Bodenständigkeit, durch den Materialismus der Produktion, die sein Leben bestimmt. Im Takt der Produktionsabläufe, unter dem Druck der Produktivitätssteigerung und der Rendite ist kein Platz für intellektuelle Selbstdarstellung und Traumtänzerei. Materialistische Weltsicht macht den Blick frei auf die Wirklichkeit.

Interessen statt Werte

Auch wenn die Menschen besonders im Westen sich nicht mehr als Proletarier verstehen, decken sich ihre Interessen immer weniger mit jenen, die die bürgerlichen Parteien vertreten. Sie und die Medien schüren Konflikte, die das Überleben der Menschheit gefährden. In seinem Vormachtstreben hat der Westen den Nahen Osten zertrümmert, seine NATO hat sich an die russischen Grenzen herangerobbt und will nun auch noch China bekämpfen.

Das sind aber nicht die Interessen der einfachen Menschen. Diese Interessen gilt es zu benennen, und dieser Findungsprozess scheint gerade im Gange zu sein. Der Prozess ist schwierig und voller Irrwege, denn die freie Sicht wird behindert durch die Nebel der Werteorientierung. Sie verstellt den klaren Blick, stößt aber andererseits auch zunehmend an ihre Grenzen.

Gerade der Krieg in der Ukraine zeigt die Launenhaftigkeit der Werte. Von einem Tag auf den anderen war nicht nur die Zeitenwende ausgerufen, gleichzeitig wurden auch die Werte neu gedeutet. Wer gegen den Krieg ist, ist nun rechts, was früher gerade für Kriegsbefürworter galt. Und immer mehr Waffen bringen uns dem Frieden näher, sagen heute jene, die vor kurzem noch gegen Waffenlieferungen waren. Die Werte sind entwertet, weil ihre Auslegung beliebig geworden ist.

Was bleibt als klare Orientierung? Die Interessen! Sie sind nicht so leicht umzudeuten. Sie sind nicht immer leicht zu erkennen. Aber wenn sie erkannt sind, ist es schwer, sie zu ignorieren. Die Werteorientierten rufen: Frieden! Frieden! Frieden! Aber die einen wollen den Frieden erreichen durch Verhandlungen, die anderen durch mehr Waffen. Beide sehen sich als Vertreter von Werten, und beiden zusammen stehen den Interessen gegenüber.

Das Interesse der kleinen Leute im heutigen Konflikt lässt sich auf einen einfachen Nenner bringen: "Keinen Euro für den Krieg!" Wir brauchen das Geld zur Linderung der Not im eigenen Land, zur Unterstützung der Menschen gegen die immer unerträglicheren Preissteigungen von Lebensmitteln und Energie. Zur Unterstützung der Tafeln! Zur Förderung des Wohnungsbaus! Zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und des Bildungssystems. Überall herrscht Mangel. Nur für den Krieg ist Geld im Überfluss vorhanden.

Wenn die neue Friedensbewegung um Wagenknecht und Schwarzer Erfolg haben will, muss sie sich lösen von der Werteorientierung. Damit erreicht sie zwar diejenigen, die selbst werteorientiert sind, aber nicht jene große Mehrheit der Bevölkerung. Denn diese richtet sich nach wie vor an ihren Interessen aus. Ohne diese große Mehrheit wird es aber nicht gehen. Wer für den Frieden ist, darf sich nicht darauf beschränken, nach Frieden zu rufen, sondern muss fordern: „Keinen Euro für den Krieg!“ Denn letztlich ist es egal, weshalb er endet, ob aus Mangel an Waffen oder aus Mangel an Geld. Die Hauptsache ist, er endet.

Ansätze

So wie das Proletariat sich seinerzeit seine Organisationen schaffen musste zur Durchsetzung seiner Interessen, so werden auch die einfachen Menschen in Zeiten wie diesen nicht umhin kommen, sich neue Organisationen zu schaffen zum Schutz ihrer Interessen. Das ist die Lektion, die es in der Zukunft zu lernen gilt: Die eigenen Interessen erkennen und sich für diese Interessen organisieren.

Ansätze dazu sind in Frankreich zu erkennen, wo sich der Konflikt zwischen der Regierung und großen Teilen der Bevölkerung um die Anhebung des Renteneintrittsalters immer mehr verschärft. Da geht es um Interessen, nicht um Werte, und die Menschen sind sich darüber im Klaren. Das Bewusstsein über die eigenen Interessen entwickelt die nötige Entschlossenheit und Kampfkraft.

Ähnliches entwickelt sich auch in den Niederlanden, wo die Bauern-Bürger-Bewegung (BBB) gegen eine Klimapolitik der eigenen Regierung zu Felde zieht, die die Lebensgrundlagen der meisten bäuerlichen Betriebe bedroht. Offensichtlich ist es dieser Bewegung innerhalb kürzester Zeit gelungen, nicht nur die eigenen Interessen zu bedienen sondern darüber hinaus weitere Teile der Bevölkerung zu erreichen.

Bei den Provinzwahlen am 15. März 2023 wurden die Bauern-Bürger-Bewegung in neun der zwölf Provinzen stärkste politische Kraft und deklassierte die bisherigen Parteien auf den Rang von Splittergruppen. Es war ein Erdrutsch, wie selbst die Vertreter der etablierten Parteien zugeben mussten. Die BBB setzte sich gerade nicht für Werte ein, die die Partei in Freunde und Feinde der Ukraine gespaltet hätte, in Anhänger und Gegner Putins oder ähnliche Fragen, die für das Leben der Menschen nur eine untergeordnete Bedeutung haben.

Sie ließen sich auch nicht durch die Links-Rechts-Propaganda jener Kräfte spalten, gegen die sie sich im Kampf befinden für ihre eigenen Interessen. Für sie stand der Kampf gegen die umweltpolitischen Pläne der Regierung im Vordergrund. Wie die Mitstreiter zu anderen politischen Themen stehen, spielt für die Bewegung eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, wie sie zu den Plänen stehen, die ihre Lebensgrundlagen bedrohen, und welchen Einsatz sie dafür zu leisten bereit sind. Folgerichtig hat die BBB Koalitionen zur Regierungsbildung in den Provinzen mit jenen politischen Kräften ausgeschlossen, die die umweltpolitischen Pläne der Regierung unterstützen. Das ist interessenorientierte Politik.

Die Probleme in Deutschland sind von denen der Holländer nicht so verschieden und nicht minder bedrohlich. Aber es gibt noch keine Bewegung, die Themen aufgreift wie beispielsweise die Folgen der energetischen Gebäudesanierung, die in der Brüsseler Vorlage für Millionen die Gefahr des Ruins oder der Obdachlosigkeit in sich trägt. Im Vordergrund der öffentlichen Debatte in Deutschland steht der Ukraine-Krieg. Auch in dieser Frage dient die deutsche Politik nicht den Interessen der deutschen Bevölkerung. Deren Interesse entspricht der Forderung: "Keinen Euro für den Krieg".

Rüdiger Rauls ist Autor und betreibt den Blog Politische Analyse.

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