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Wie die Ukraine ihr kulturelles und historisches Erbe zerstört

Mit dem Abriss russischer und sowjetischer Denkmäler entledigt sich die Ukraine ihrer Vergangenheit und entwickelt sich zu einem kulturell weit weniger vielfältigen Land. Inzwischen bietet der Nationalismus alle notwendigen Werkzeuge zum Aufbau einer kohärenten soziopolitischen Gemeinschaft. So wird die "De-Russifizierung" voranschreiten.
Wie die Ukraine ihr kulturelles und historisches Erbe zerstört© Jeff J. Mitchell / Getty Images

Von Alexander Nepogodin

In den vergangenen Jahren ist die Ukraine zum Schlachtfeld in einem Kampf um Denkmäler geworden, der zwischen verschiedenen politischen Kräften ausgetragen wird. Im Jahr 2014 erreichte dieser Prozess mit der reihenweisen Zerstörung von Statuen von Wladimir Lenin – und zahlreichen weiteren historischen sowjetischen Persönlichkeiten – einen Höhepunkt. Diese Ereignisse haben die Symbolik und Politik des historischen Gedächtnisses des Landes grundlegend verändert und den Weg zu einer Realität geebnet, in der jede öffentliche Rede nun von den Worten "Ehre der Ukraine! Ehre den Helden!" begleitet wird. Dies war der Schlachtruf von Stepan Banderas nationalistischer Bewegung im Zweiten Weltkrieg, die mit Adolf Hitlers Nazis kollaborierte und sich am Holocaust beteiligte.

Obwohl es zunächst die Leute um den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij waren, die versuchten, die historische Erinnerungspolitik neu zu definieren, gewann der radikale nationalistische Flügel in diesem symbolischen Kampf schnell die Oberhand. Nach dem Beginn der russischen Militäroperation wurde aus der sogenannten "Politik der De-Kommunisierung" umgehend eine "Politik der De-Russifizierung" – obwohl mehr als die Hälfte der Bevölkerung offiziell als russischsprachig gilt.

Krieg dem Gedenken

Nachdem russische Truppen im Februar in die Ukraine einmarschiert waren, projizierten viele Einheimische ihren Hass auf Moskau auf Objekte des kulturellen und historischen Erbes, die in irgendeiner Weise mit dem Russischen Reich oder der Sowjetunion in Verbindung standen. In der Zwischenzeit begannen ukrainische Politiker, diese Stimmung aktiv zu schüren, und nutzten sie als willkommene Gelegenheit, um ihre persönlichen Zustimmungswerte zu verbessern.

In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Initiativen zur kulturellen und historischen "De-Russifizierung" der Ukraine explodiert. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Der Kiewer Stadtrat hat kürzlich elf Straßen umbenannt, die einen Bezug zu Russland hatten, unter anderem die Lomonossow-, Magnitogorsk- und Belomorskaja-Straße. (Anm. d. Red: Lomonossow war ein russischer Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts, Magnitogorsk ist eine Stadt im russischen Ural und Belomorskaja bezieht sich auf das Weiße Meer im Norden Russlands.) 

Außerdem wurde die russische Sprache vollständig aus den Lehrplänen der Schulen der Hauptstadt verbannt. Die Entscheidung wurde von 64 der 120 Abgeordneten unterstützt. Wadim Wasiltschuk, Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Wissenschaft, Familie, Jugend und Sport, begründete es damit, dass das Unterrichten von Russisch in der aktuellen Situation "unangemessen" sei. Tatsächlich haben Kiews Bildungseinrichtungen zu Beginn des akademischen Jahres im vergangenen September aufgehört, die russische Sprache in irgendeiner Form – auch als Freifächer – zu unterrichten.

In der Zwischenzeit erlebten andere ukrainische Städte eine Welle der "De-Puschkinisierung". Im November wurden Denkmäler des großen russischen Dichters in Charkow und Schitomir vom Sockel gestürzt, während sein Denkmal in Odessa mit der Aufschrift "Raus!" beschmiert wurde. Nur ein paar Wochen früher wurde in Kiew bereits eines der ältesten Denkmäler des Dichters dem Erdboden gleichgemacht.

Auch die Zerstörung von Denkmälern russischer und sowjetischer Staatsmänner wird fortgesetzt. Der Expertenrat des ukrainischen Kulturministeriums zur "Überwindung der Folgen von Russifizierung und des Totalitarismus" beschloss, Denkmäler für den sowjetischen Militärkommandeur Nikolai Watutin und den legendären Kommandanten des Russischen Bürgerkriegs, Nikolai Schtschors, abzureißen.

Ein Denkmal für sowjetische Soldaten, das am 8. Mai 1970 zum 25. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg errichtet worden war, wurde im vergangenen November in Uschgorod abgerissen. Die Entscheidung datiert vom 13. Oktober. Kiew schlug vor, an seiner Stelle stattdessen ein Denkmal für die Soldaten der 128. Gebirgssturmbrigade der Streitkräfte der Ukraine zu errichten – einer Militäreinheit, die sich aktiv am 2014 von Kiew entfesselten Krieg gegen den Donbass beteiligte.

Die Geschichte eines ganz bestimmten Denkmals

Der vielleicht dramatischste Fall im Zuge dieser "De-Russifizierung" ereignete sich in der Hafenstadt Odessa. Die Geschichte dieser Stadt reicht bis ins Ende des 18. Jahrhunderts zurück, als das Russische Reich die nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres kolonisierte. Im vergangenen November kündigte der Bürgermeister von Odessa, Gennadi Truchanow, den bevorstehenden Abriss eines der historischsten Wahrzeichen der Stadt an – des Denkmals für Katharina die Große und ihre Weggefährten, dank denen die Stadt gegründet und Ende des 19. Jahrhunderts zur südlichen Hauptstadt des Russischen Reiches wurde.

Noch vor wenigen Monaten hatte sich derselbe Bürgermeister gegen dieses Vorhaben ausgesprochen. "Ich bin nicht dafür, Denkmäler abzureißen. Wir können sie zwar entfernen, aber die Geschichte wird sich dadurch nicht ändern. Ich weiß, dass eine Petition von 25.000 Bürgern unterzeichnet wurde, aber ich werde abwarten. Soll ich anschließend auch die Denkmäler für Alexander Puschkin oder Juri Gagarin entfernen? Das ergibt keinen Sinn", schrieb Truchanow. Aktivisten richteten jedoch bald eine Petition an Selenskij, der daraufhin die Strafverfolgungsbehörden in Odessa anwies, die Aktivitäten des Bürgermeisters zu untersuchen.

Das ukrainische Kulturministerium in Kiew unterstützt die Idee, das Denkmal für Katharina die Große abzubauen. Doch laut dem Leiter des Ministeriums, Alexander Tkatschenko, sollte diese Entscheidung von lokalen Abgeordneten getroffen werden. "Meine Meinung ist klar: Es braucht dieses Denkmal nicht. Die Entscheidung sollte jedoch von den Abgeordneten von Odessa mit einem entsprechenden Appell an das Ministerium getroffen werden. Wenn ein solcher Appell eintrifft, werden wir sicherlich unsere Zustimmung geben", sagte der Minister. Schließlich beschloss der Stadtrat von Odessa, nach zahlreichen Farbanschlägen auf das Denkmal eine Online-Umfrage unter den Bürgern der Stadt durchzuführen, um über das Schicksal des Monuments zu entscheiden.

Bürgermeister Truchanow beeilte sich, seine bisherige Haltung umgehend anzupassen, und verkündete, er werde dafür votieren, das Denkmal in einen "Park der kaiserlichen und sowjetischen Vergangenheit" zu verlegen, dessen Errichtung er vorschlug, während der stellvertretende Bürgermeister von Odessa, Oleg Bryndak, anbot, einen Brunnen auf dem Platz zu installieren, an dem das Denkmal für Katharina die Große jetzt noch steht.

Die Online-Abstimmung wurde innerhalb kürzester Zeit durchgeführt. Von den etwa eine Million Einwohnern von Odessa stimmten 2.900 Einwohner für den Abriss und 2.251 dagegen. Der Rest – also über 990.000 Menschen – enthielt sich der Stimme. Trotzdem wurde die Abstimmung als legitim anerkannt. Der Stadtrat muss jetzt nur noch eine endgültige Entscheidung treffen, aber das Ergebnis ist nicht schwer vorherzusagen. Laut einer Ankündigung, die an der hölzernen Schutzummantelung angebracht ist, die das Denkmal aus Bronze mittlerweile verhüllt, laufen bereits die Vorbereitungen für den Abbau und Abtransport in ein Zwischenlager.

Geschichte wiederholt sich

Ironischerweise veranschaulicht der Katharinenplatz im Zentrum von Odessa in kritischen Zeiten perfekt die Veränderungen der Politik gegenüber dem historischen Erbe der Ukraine. Als der Platz ursprünglich angelegt wurde, stand in seiner Mitte ein öffentlicher Lustgarten. 1873 nahm die zentrale Wasserversorgung der Stadt ihren Betrieb auf, und die Behörden installierten dort einen Brunnen. 1891 beschloss die Duma der Stadt, ein Denkmal zu Ehren des 100. Jahrestages der Stadtgründung zu errichten. Im Vorfeld des Jubiläums wurde dafür ein Wettbewerb ausgelobt, mit dem der beste Entwurf ermittelt werden sollte. Schließlich wurde im August 1894 offiziell mit dem Bau des heutigen Denkmals begonnen. Die Einweihung fand am 6. Mai 1900 statt und fiel zeitlich mit dem 100. Todestag eines der Stadtväter, des Militärkommandanten Alexander Suworow, zusammen. Ein Jahr später wurde der Katharinenplatz auf einem Architekturkongress, mit seinem Denkmal für die Stadtgründer, als bester integraler Architekturkomplex Europas ausgezeichnet.

Das Denkmal wurde zweimal eingeweiht – das erste Mal am 6. Mai 1900 und dann erneut am 27. Oktober 2007. Während der Russischen Revolution und des anschließenden Bürgerkriegs, als in der Stadt ständig die Herrschaft wechselte, verhüllten die Behörden das Denkmal und beabsichtigten, es abzubauen. Der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor Iwan Bunin, der 1919 Odessa besuchte, vermerkte in "Die verfluchten Tage" – seine Tagebucheinträge, die er während der Revolution schrieb –, dass er "den Katharinenpatz vor Einbruch der Dunkelheit besucht. Alles war düster und nass. Das Denkmal für Katharina die Große ist von Kopf bis Fuß mit schmutzigen, nassen Lumpen verhüllt, mit Seilen umwickelt und mit roten Sternen aus Holz übersät. Gegenüber dem Denkmal befindet sich die Notstandskommission. Rote Fahnen hingen im Regen herunter und ihre Spiegelungen auf dem nassen Asphalt sahen aus wie vergossenes Blut".

Diskussionen über den Erhalt des Denkmals gaben den Behörden seit der Revolution von 1917 keine Ruhe, weshalb die Angelegenheit der Kunstkommission in der damaligen Hauptstadt Petrograd übertragen wurde. Im Mai 1920, nachdem in Odessa die Sowjets die Macht übernommen hatten, wurde das Denkmal abgebaut, wobei eine nackte Säule und ein Sockel zurückblieben. Die Figuren von Katharina der Großen und ihren Weggefährten landeten schließlich – dank der Bittsprache des Schriftstellers Maxim Gorki – im Hof des Museums für Heimatkunde.

In den 1920er Jahren wurden der Katharinenplatz und die Prachtstraße, die dahin führt, nach Karl Marx umbenannt. Für die nächsten zwei Jahrzehnte beherbergte der Sockel eine Skulptur des berühmten Autors von "Das Kapital". Irgendwann ersetzten die Behörden die Büste durch eine lebensgroße Darstellung von Marx, doch die Statue fiel während eines heftigen Sturms vom Sockel, angeblich aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Materialien – so lautet zumindest die offizielle Version. 1931 wurde dann vorübergehend eine skulpturale Komposition mit den Symbolen des Proletariats – Hammer und Sichel – auf dem Sockel errichtet.

Während der Besetzung von Odessa durch rumänische Truppen im Zweiten Weltkrieg beeilte sich der rumänische Premierminister Ion Antonescu, den Platz und die Prachtstraße nach Adolf Hitler umzubenennen, diesmal jedoch ohne ein Denkmal zu errichten. Dann, in den 1950er Jahren, wurde der Sockel vom Platz entfernt und wieder durch einen öffentlichen Garten ersetzt.

Im Jahr 1965, am 60. Jahrestag des Aufstands der Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin, wurde auf dem Platz ein bronzenes Denkmal für die Seeleute enthüllt. Dieses Denkmal stand dort 42 Jahre lang, bis schließlich 2007, im Rahmen eines Projekts zur Wiederherstellung des historischen Erscheinungsbilds des Stadtzentrums von Odessa, das "Denkmal für die Gründer von Odessa", eine exakte Nachbildung des Originals, auf dem Katharinenplatz eingeweiht wurde. Und jetzt steht der Platz wieder vor Veränderungen, da sich der politische Wind erneut gedreht hat.

Ein politisches Pendel

Die Tatsache, dass Nationalismus – der in vielen osteuropäischen Ländern den Kern des kulturellen Gedächtnisses ausmacht – jede Nation zu ihrem eigenen Opfer macht, wird einmal mehr durch die Veränderungen in der kulturellen und historischen Landschaft der Ukraine bestätigt. Darüber hinaus wird Russland, das als Bedrohung für die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine und anderer Nachbarländer dargestellt wird, zu einem Schlüsselelement im Mechanismus des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiven Identität. Mit anderen Worten, das Modell einer leidenden Nation und das Motiv einer existenziellen Bedrohung haben sich durchgesetzt, und es ist das Bild von Russlands Vergangenheit und Gegenwart, das für die eigene Identitätsbildung verwendet wird.

Wie ist das möglich geworden? Als die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangte, erhielt ihre politische Geografie stabile Grenzen und wurde in das Selbstbewusstsein der beiden Landesteile integriert. Tatsächlich entstanden zu dieser Zeit mehrere Bevölkerungsgruppen mit starken nationalen Identitäten: ukrainischsprachige, die hauptsächlich in den westlichen und zentralen Regionen leben und sich zu einem rein ethnischen Narrativ bekennen, russischsprachige, die hauptsächlich in der Mitte, im Süden und im Osten leben und für die Russen keine Fremden oder Feinde waren, sowie ethnische Russen mit Wurzeln im Mutterland.

Diese Bevölkerungsgruppen, insbesondere die ukrainischsprachigen und russischsprachigen, hatten lange Zeit ihr eigenes kulturelles Erbe, ihre eigene Sprache und ihre eigene politische Vertretung. Man erinnere sich an die Orangene Revolution von 2004 oder an den Euromaidan von 2014, bei dem sich der "proukrainische" Teil der Gesellschaft gegen den "prorussischen" Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch stellte, der in Tat und Wahrheit jahrelang mit der EU über eine eventuelle Mitgliedschaft der Ukraine verhandelt hatte.

Trotz gewisser Ähnlichkeiten zwischen diesen Bevölkerungsgruppen waren die Unterschiede dennoch so stark, dass die Behörden schon vor der Unabhängigkeit der Ukraine jegliche Bestrebungen zur Föderalisierung der Ukraine als ruinös für die Nation insgesamt betrachteten.

Viele Jahre lang hatte die Ukraine dank eines austarierten politischen Pendels, das sich zwischen dem Süden, dem Osten und dem Westen bewegte, existiert. Das Gefühl einer Einheit hing von zwei Bedingungen ab: einer im Inneren und einer im Äußeren. Die innere Bedingung war, dass die politische Elite, die aus einem bestimmten Teil des Landes an die Macht kommt, die Interessen der gesamten Bevölkerung vertritt.

Die äußere Bedingung war, das Land zwischen den beiden Zentren der Weltmacht im Gleichgewicht zu halten. Aber beide Bedingungen erwiesen sich als fragil. Ersteres hing davon ab, wie die innenpolitischen Projekte der Ukraine verfolgt wurden, während Letzteres die Fähigkeit des Landes voraussetzte, in den Beziehungen zu Russland und der Europäischen Union eine Multi-Vektor-Politik zu verfolgen.

Im Jahr 2014 konnten beide Bedingungen nicht mehr erfüllt werden. Vor dem Euromaidan, der Wiedervereinigung der Krim mit Russland und dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts im Donbass waren die Meinungsverschiedenheiten über das historische Narrativ moderat. Dieses empfindliche Gleichgewicht wurde durch eine Politik zugunsten des aktiven Aufbaus eines Nationalstaats gestört. Das Pendel schlug nun heftig in verschiedenen Richtungen aus, und plötzlich verlor das ganze System das Gleichgewicht.

Ein russischer Osten?

Die meisten russischsprachigen Ukrainer betrachteten sich selbst nicht als eine "andere Nationalität" und unterstützten keine alternativen nationalen Ideen, wie zum Beispiel die einer einzigartigen regionalen Identität, die mit den südlichen und östlichen Regionen der Ukraine, als ehemaliger Teil der historischen Kulturregion Noworossija, verbunden ist. Eine solche "De-Nationalisierung" war das Ergebnis der begrenzten Außenpolitik Russlands in den 1990er bis in die frühen 2000er Jahre und der allgemeinen sozioökonomischen Situation.

In jenen Jahren hatte es in der Ukraine keine interethnischen oder interkulturellen Konflikte gegeben, weil man nicht zwischen "Russen" und "Ukrainern" gespalten war. Die letztendliche Spaltung erfolgte zwischen denen, die eine ukrainische nationale Identität annahmen, und jenen, die dies nicht taten. Mit anderen Worten, nach der Änderung des Status quo im Jahr 2014 wurden die südlichen und östlichen Regionen zu einem Konglomerat von Gebieten, die unzureichend in den Aufbau der ukrainischen Nation eingebunden waren. Während diese Regionen ihre ukrainische Identität infrage stellten, konnte sie auch nicht dem Beispiel des Donbass folgen, das die Volksrepubliken Donezk und Lugansk ausrief – ein einzigartiges Modell, das auf den Rest der Regionen im Süden und Osten nicht angewendet werden konnte.

Nach dem Beginn der Militäroperation Moskaus wurde die Distanzierung von der russischen Kultur und Sprache unvermeidlich. Gleichzeitig hat sich auch die nationale Identität der russischsprachigen Ukrainer stark verändert. Was früher ein Kompromiss war, der ein multiethnisches und multikulturelles Modell der nationalen Entwicklung förderte, wurde zu einem Übergangsmodell zur Aneignung einer vollständig ukrainischen Identität – sowohl sprachlich als auch kulturell.

Noch vor wenigen Jahren sprachen die Bewohner des Südens und Ostens der Ukraine Russisch, obwohl sie sich als Ukrainer identifizierten. Jetzt unterliegen die russische Sprache und ihre kulturellen und historischen Symbole irreversiblen Veränderungen und werden zu einem Zeichen politischer Zugehörigkeit – nämlich prorussisch zu sein.

Die Behörden sind sich dessen bewusst und streben danach, die Kontrolle über das historische Erbe und die Erinnerungspolitik zu erlangen, und erwarten, diesen Kampf um die öffentliche Meinung zu gewinnen. Die südlichen und östlichen Regionen verwandeln sich in Testgelände für experimentelle Nationenbildung. Ihre politische Selbstbestimmung hängt vollständig von der historischen Erinnerung und der Sprachpolitik ab. Inzwischen bietet der Nationalismus alle notwendigen Werkzeuge zum Aufbau einer kohärenten soziopolitischen Gemeinschaft. Deshalb wird eine so aggressive Initiative zur "De-Russifizierung", wie der Abriss des Denkmals für Katharina die Große in Odessa, nicht die letzte sein.

Die zentrale politische und kulturelle Debatte in der ukrainischen Gesellschaft dreht sich seit vielen Jahren um die Frage der Bewahrung oder der Ausmerzung des russischen und sowjetischen Kulturerbes. In der gegenwärtigen Situation des bewaffneten Konflikts nutzen Unterstützer des Letzteren geschickt die öffentliche Empörung, um ihre Ziele zu erreichen. Sollte dieser Prozess fortgesetzt werden – und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass dies nicht der Fall sein wird –, wird sich die Ukraine in einigen Jahren zu einem deutlich homogeneren und weit weniger kulturell vielfältigen Land entwickeln, das bereitwillig auf einen Großteil seines kulturellen und historischen Erbes verzichtet hat.

Aus dem Englischen.

Alexander Nepogodin ist ein in Odessa geborener politischer Journalist und Experte für Russland und die ehemalige Sowjetunion.

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