Meinung

Die deutsche Exportorientierung scheitert gerade

Über Jahrzehnte hat Deutschland exportiert wie ein Weltmeister. Die neueren wirtschaftlichen Daten lassen jedoch Böses ahnen – dieses Modell stößt nicht nur an seine Grenzen, es kann nicht mehr funktionieren. Die Politik hätte die Möglichkeit, den Schaden zu begrenzen, wird es aber nicht tun.
Die deutsche Exportorientierung scheitert geradeQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Teresa Kröger

von Dagmar Henn

Über Jahrzehnte hinweg kannte die deutsche Wirtschaftspolitik nur eine Richtlinie: die maximale Förderung der deutschen Exportindustrie. Diesem Ziel wurde selbst die Sozialpolitik untergeordnet, wie sich an der Einführung von Hartz IV belegen lässt, die vor allem dazu diente, die Löhne zu senken und damit die deutschen Exporte zu verbilligen.

Im Interesse der Mehrheit der Deutschen lag diese Orientierung also nicht. Sie finanzierten die Exporterfolge durch langfristige Einbußen an Lebensqualität; bis hin zu Niedrigrenten, die auch nur die Verlängerung der Niedriglöhne bis ans Lebensende sind.

Aber jetzt gerät dieses Exportmodell auf mehrfache Weise in die Zwickmühle. Die jüngsten Zahlen zum Außenhandelsüberschuss belegen das. Nach Mitteilung des Statistischen Bundesamtes sind zwar die deutschen Exporte im April 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 12,9 Prozent gestiegen, auf insgesamt 126,4 Milliarden Euro, aber die Importe stiegen gleich um 28,1 Prozent und erreichten 122,8 Milliarden, wodurch der Überschuss der Außenhandelsbilanz auf für deutsche Verhältnisse mikroskopische 3,5 Milliarden fiel.

Im Gegensatz zu früheren Einbrüchen des Außenhandelsüberschusses wurde dieser nicht durch einen Rückgang der Nachfrage ausgelöst wie im Jahr 2020 oder auch im Jahr 2009. Nein, der Wert der exportierten Waren stieg, aber der Wert der Importe stieg schneller. Unter diesen Voraussetzungen würde selbst eine massive Steigerung der Nachfrage das Problem nicht lösen; was zum Glück für die deutschen Beschäftigten auch weitere Lohnsenkungsmanöver wie Hartz IV nutzlos macht.

Noch deutlicher wird das Problem, wenn man den Index der Einfuhrpreise betrachtet. Dass Erdöl und Erdgas im Verlauf des letzten Jahres geradezu explodiert sind, auf 344,6 Prozent (Erdgas) und 216,4 Prozent (Erdöl), erklärt sich durch die Sanktionen. Aber auch bei Erzen ist der Einfuhrpreisindex auf 225,2 Prozent gestiegen.

Die geringste Steigerung hatten die Gebrauchsgüter. Aber Vorleistungsgüter (26,8 Prozent), Rohaluminium (78,4 Prozent), Roheisen und Stahl (58 Prozent) sowie Primärformen von Kunststoffen (27,7 Prozent), sie alle wurden beeindruckend teurer. Auch landwirtschaftliche Güter stiegen um 26,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, Getreide sogar um 55,8 Prozent.

Die Inflation, die private Haushalte in Deutschland zu spüren bekommen, ist also nur ein Bruchteil der Preissteigerungen bei bestimmten Rohmaterialien und Vorprodukten. Die deutsche Industrie ist aber meist die letzte Position in einer Lieferkette, was heißt, sie bezieht Vorprodukte, vor allem aus China und Osteuropa, die dann eingebaut und verwendet werden. Da schlagen aber nicht nur die Preissteigerungen zu Buche, sondern außerdem noch Unterbrechungen der Lieferketten, wie sie für viele Branchen bereits seit dem letzten Frühjahr bekannt sind.

Diese Unterbrechungen hatten schon vielfach zu Produktionsunterbrechungen geführt; aber eine Umstellung der Lieferkette auf heimische Produktion dürfte, selbst langfristig, auf Grundlage dieser Energiepreise unmöglich sein. Die chinesischen Vorprodukte sind aber nicht sicher, weil die geradezu sanktionssüchtige EU im Einklang mit den USA jetzt auch noch Sanktionspakete gegen China vorbereitet.

Die die deutsche Industrie nicht nur bei den Lieferketten treffen werden, sondern auch, weil China nach den USA (die sich in den letzten Jahren nach vorne geschoben haben) der zweitgrößte Abnehmer deutscher Waren ist. Während quantitativ die Exporte nach Russland verglichen mit dem Gesamtvolumen der deutschen Exporte durchaus überschaubar waren, wäre eine Verhinderung des Handels mit China ein ernstes Problem. Immer vorausgesetzt natürlich, dass der Energiemangel der Produktion nicht ohnehin den Garaus macht.

Und die USA als Absatzmarkt? Auch da stoßen mehrere Probleme zusammen. Im Gegensatz zu den Erwartungen hat Joe Biden die protektionistische Handelspolitik, die Trump begonnen hatte, nicht geändert; im Gegenteil. Im vergangenen Sommer bereits berichtete das Handelsblatt, dass bei öffentlichen Aufträgen in den USA nun 75 Prozent der Komponenten aus den USA stammen müssen. Öffentliche Investitionen sind ein oft unterschätzter, gigantischer Markt, der mit einem solchen Beschluss so gut wie verschlossen ist.

Der Konsumentenmarkt? Über den wurden gerade zwei unangenehme Kennzahlen bekannt – eine Sparquote, die so niedrig ist wie seit 2008 nicht mehr, was darauf hinweist, dass vorhandene Ersparnisse aufgezehrt wurden und augenblicklich keine sparbaren Überschüsse anfallen, und eine Rekordzunahme bei Kreditkartenschulden, die im Grunde das Gleiche aussagt. Schließlich sind für diese Schulden Zinsen zwischen 15 und 16 Prozent fällig, während Kfz-Kredite zwischen 4 und 5 Prozent und einem Zentralbankzinssatz von 0,9 Prozent.

Das deutet auf einen Einbruch der Nachfrage hin. Ein Einbruch, der für die USA ökonomisch auch nicht unproblematisch sein wird, weil die US-Ökonomie binnenmarktgetrieben ist, aber eben ein Einbruch, der auch die deutsche Exportindustrie erwischen wird. Nicht nur beim Verkauf irgendwelcher Endprodukte mit oder ohne Räder, auch beim Maschinenbau, denn eine schrumpfende Produktion braucht keine neuen Maschinen.

Die USA und China sind die einzigen beiden Gegenden, in denen nach einer Umfrage des DIHK überhaupt eine positive Entwicklung erwartet wird. Auf einen steigenden Absatz in Europa scheint niemand zu setzen, und auch das mit Recht. Die ersten Anzeichen, dass sich die Staatsschuldzinsen innerhalb der Eurozone wieder auseinanderentwickeln (was die Entwicklung wiederholt, die der Eurokrise vorausging), sind bereits zu sehen. Der Zinsabstand zwischen Deutschland und Griechenland bei 10-jährigen Staatsanleihen stieg auf 2,55 Prozent, der zu Italien auf 2,1 Prozent.

Das sind, wohlgemerkt, alles keine Entwicklungen, die schlicht deckungsgleich mit dem Anstieg der Energiepreise sind. Dieser spielt in jedem Aspekt eine Rolle, aber es kommen eben noch andere Faktoren hinzu, wie die unvollständige Erholung von den Corona-Maßnahmen oder die gewöhnlichen konjunkturellen Schwankungen und, last but not least, die immer noch nicht verdaute Krise des Jahres 2008.

Apropos 2008 – die amerikanische Zentralbank würde die Zinsen ja gerne weiter erhöhen. Wie sich das in dieser Gemengelage auswirkt, kann man sich vorstellen. Es wäre ein Wunder, würden sich die USA nicht binnen weniger Monate in einer ausgeprägten Rezession wiederfinden. Zusätzlich zu Inflation und Energienotstand.

Natürlich gäbe es in Deutschland zumindest ansatzweise eine Möglichkeit gegenzusteuern, aber das würde einen völligen Wechsel des ökonomischen Modells weg von der Export- hin zu einer Binnenwirtschaftsorientierung erfordern. Das hieße zuallererst, die Löhne so weit zu erhöhen, dass nicht nur die beeindruckende Inflation ausgeglichen wird, sondern dass zusätzlich noch Geld für den Konsum übrig bleibt. Geld, das nicht nur als einmalige Dreingabe aufschlägt, sondern planbar und langfristig vorhanden ist, weil ein einmaliger Bonus, egal wie man ihn nennt, nirgends zum Aufbau von Produktionslinien führen wird.

Das wäre ein völliger Paradigmenwechsel und ausnahmsweise eine Entwicklung, die auch der Mehrheit der Bevölkerung zugutekäme. Leider ist sie so unwahrscheinlich wie ein Besuch des Christkinds. Im Gegenteil. Die Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichte gerade erst ihre regelmäßige Erwerbspersonenbefragung, die ergab, dass Haushalte in der Einkommensgruppe bis 2.000 Euro netto von äußersten oder starken Belastungen durch die steigenden Preise sprechen und sich 70 Prozent dieser Haushalte große Sorgen deswegen machen würden.

Inzwischen stünde bei den unteren Einkommensgruppen die Sorge um die Zunahme der sozialen Ungleichheit auf Platz drei, die um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft auf Platz vier. Kein Wunder, denkt man sich, der wohlhabende Teil der Gesellschaft gibt prozentual weniger seines Einkommens für Verbrauchsgüter aus und ist deshalb nicht so vielfältig von den steigenden Preisen betroffen. Die Einmalzahlungen, die die Böckler-Stiftung vorschlägt, dürften aber nichts daran ändern. Dass gewisse Teile der Politik jede Form von Konsumverringerung auch noch begrüßen, sorgt dafür, dass eine ökonomische Umkehr undenkbar wird.

Die Inflation, die noch der sichtbarste Aspekt dieses wirtschaftlichen Suizids ist, weckt erst einmal die Illusion, der wohlhabende Teil der Bevölkerung könnte auf Kosten des ärmeren ungeschoren davonkommen. Aber bei einem Zusammenbruch der Produktion gilt das nicht mehr; dann stürzen auch die vermeintlich sicheren Werte wie Immobilien. Der Absturz des Außenhandelsüberschusses ist ein Zeichen, dass diese Folgen viel schneller eintreten werden, als viele vermuten. Wenn aber irgendwann, aus den Trümmern der Exportindustrie, Deutschland wieder eine ökonomische Basis entwickeln will, dann wird das gar nicht anders gehen als über eine Konzentration auf die Binnenökonomie. Und eine Rückbesinnung auf die Tatsache, dass nicht die Menschen für die Wirtschaft da sind, sondern die Wirtschaft für die Menschen.

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