Meinung

Wer hat ein Recht auf Wiedervereinigung?

Territoriale Integrität ist die Monstranz, die der Westen vor sich herträgt, wenn es um die Ukraine geht. Dabei werden einige Aspekte übergangen, die mit Fragen der Nation zusammenhängen. Nicht nur die Selbstbestimmung. Auch, ob es nicht um eine Wiedervereinigung geht.
Wer hat ein Recht auf Wiedervereinigung?Quelle: Legion-media.ru © Vova Pomortzeff

von Dagmar Henn

In Melitopol und anderen befreiten Orten wurden jüngst Büros eröffnet, in denen die Bürger russische Pässe beantragen können, und im Internet finden sich Videos langer Menschenschlangen vor diesen Büros. Die EU hat natürlich bereits erklärt, sie werde diese Pässe nicht anerkennen; damit setzt sie aber nur die Verdrängung der Realität fort, die schon ihre Politik in der Frage der Krim geprägt hatte.

"Territoriale Integrität" lautet das stets wiederholte Stichwort, und man dürfe Grenzen nicht verändern (außer natürlich, es geht um jene Serbiens oder Syriens oder ...). Mit am lautesten ertönt dieses Geschrei aus Deutschland, was ein klein wenig eigenartig ist – schließlich ist die heutige Bundesrepublik das Ergebnis einer Grenzveränderung, die die territoriale Integrität eines anderen Staates komplett aufgehoben hatte und die nicht durch ein Referendum bestätigt worden war.

Der Fall der DDR: Wiedervereinigung oder feindliche Übernahme?

Die Angliederung der DDR an die Bundesrepublik, so wird argumentiert, sei der Wunsch der dortigen Bürger gewesen, und zudem wurde der "Wiedervereinigung" genannte Prozess (der in einigen entscheidenden Punkten, etwa in der Verfassungsfrage, keine war) mit der Zugehörigkeit beider Teile zu einer Nation begründet, einer "Schicksalsgemeinschaft", die nur durch das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs auseinandergerissen wurde und gewissermaßen von einem kreatürlichen Drang beherrscht wird, wieder zusammenzufinden.

Dabei hatte das Deutsche Reich, das den Definitionsrahmen dieser "Schicksalsgemeinschaft" abgibt, gar nicht so lange bestanden, ehe es zerteilt wurde; das Datum der Reichsgründung war der 18. Januar 1871 in Versailles, und das Ende war der 8. Mai 1945 in Berlin. Und das, was da 1871 vereinigt wurde, war nicht völlig willig. Schließlich hatten Anfang des 19. Jahrhunderts Bayern und Preußen etwa in den napoleonischen Kriegen gegeneinander gestanden, und die preußische Repression nach der Revolution 1848 machte den Hohenzollernstaat auch nicht populärer. "Saupreiß" war noch in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein höchst populäres Schimpfwort in Bayern.

Tatsächlich war noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts, ehe die vereinheitlichende Wirkung von Rundfunk und Fernsehen zu tragen kam, die im Alltag gesprochene Sprache alles andere als einheitlich, und die Spanne deutscher Dialekte ist in Wortschatz, Grammatik und Aussprache weit genug, dass ein Sprecher des Plattdeutschen und ein Oberbayer nicht erfolgreich miteinander kommunizieren könnten. Bis 1913 gab es nicht einmal eine direkte deutsche Staatsangehörigkeit; Deutscher war, wer Staatsangehöriger eines der deutschen Länder war, also etwa der Königreiche Bayern oder Sachsen.

Dass viele dieser Unterschiede heute kaum mehr wahrnehmbar sind, hat mit zahlreichen recht technischen Schritten zu tun. Der Bildung einer einheitlichen Zeitzone im Zusammenhang mit der Entwicklung der Eisenbahnen beispielsweise, der Einführung einheitlicher Maße und Gewichte, einer einheitlichen Währung, eines einheitlichen Postdienstes und so weiter, und der Einführung eines einheitlichen Rechts, beispielsweise durch das Strafgesetzbuch, das am 15. Mai 1871 erlassen wurde. Die Entwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums durch Aufhebung der Zollgrenzen zwischen den deutschen Kleinstaaten gehört dabei weitgehend noch zum Vorlauf der Reichsgründung und begann bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das föderale Bildungssystem, dessen Ursprung in konfessionellen Konflikten liegt, zeigt, dass der Prozess der Formierung des Nationalstaates bis heute nicht zur Gänze abgeschlossen ist.

Die Geschichte von 1871 bis 1945 wurde dann in der erwähnten "Schicksalsgemeinschaft" erlebt. Aber was ist mit all den Jahren von 1949 bis 1989, in denen es nicht nur zwei deutsche Staaten gab, sondern zwei völlig unterschiedliche gesellschaftliche Systeme, mit unterschiedlichen Traditionen, Flaggen, Hymnen, Staatsbürgerschaften, Rechts- und Wirtschaftssystemen? Wie lang dauert es, bis die in einem Staatsgebilde zusammengeschlossene Bevölkerung zu einer Nation wird? Oder anders gesagt: Gab es 1989 tatsächlich eine deutsche Nation, die sich wiedervereinigte, oder gab es zwei deutsche Nationen und eine feindliche Übernahme?

Die sowjetische Nation

Das ist keine banale Frage, was sofort klar wird, wenn wir den geografischen Ort ändern. Die Sowjetunion wurde Ende des Jahres 1991 aufgelöst, klar gegen den Willen der Bevölkerung, die sich in einem Referendum eindeutig für den Erhalt der Union ausgesprochen hatte. Sie bestand vor dieser Auflösung etwas länger als das Deutsche Reich, selbst wenn man die Vorgeschichte des Russischen Reiches völlig ausblendet, zu dem große Teile der heutigen Ukraine bereits gehörten. Der Zeitraum seit dem Ende der Sowjetunion beträgt erst 30 Jahre, also zehn Jahre weniger, als zwei deutsche Staaten existierten. Und die Sowjetunion erfüllte sämtliche Kriterien eines Nationalstaates – ein einheitliches Wirtschaftssystem (viel einheitlicher, als es ein kapitalistisches je sein könnte), eine gemeinsame Kultur und Sprache, trotz des ausgebauten Minderheitenschutzes, einheitliche Maße, ein einheitliches Rechtssystem, einheitliche Bildung etc. etc.

Ganz zu schweigen von der "Schicksalsgemeinschaft". Es ist kaum ein prägenderes Ereignis vorstellbar, um eine solche zu zementieren, als der Abwehrkampf der Sowjetunion gegen den Überfall der Naziwehrmacht. Eine Abwehr, an der alle Völker des Vielvölkerstaates beteiligt waren, die in jeder Familie ihren Preis forderte und ihre Spuren hinterließ. Genau an diesem Punkt liegt der Grund, warum die politischen Kräfte, die viele der postsowjetischen Staaten steuern, so sehr darauf bedacht sind, die Geschichte dieses Krieges zu verzerren. Sie wissen, dass das ein Ereignis von der Art war, die Nationen formen, und müssen beständig gegen die Nachwirkungen ankämpfen, wollen sie ihre Separatstaaten halten.

Wenn es einen Grund gibt, einer deutschen Nation eine Weiterexistenz über Jahrzehnte der Spaltung hinweg zu bescheinigen, dann gälte das Gleiche für eine sowjetische Nation. Das würde aber bedeuten, dass jeder Schritt der Bewohner eines der abgetrennten Staaten, sei es in Bezug auf das gesamte Gebiet dieser Abtrennung oder einen Teil davon, sich mit der Russischen Föderation zu vereinen, sich auf einen Anspruch auf Wiedervereinigung der sowjetischen Nation berufen könnte.

"Territoriale Integrität" – ein Schlagwort der Westens

Der Einwurf der "territorialen Integrität", der in diesem Zusammenhang im Westen gern gemacht wird, ist zum einen nachweisbar opportunistisch, weil er immer nur in den Zusammenhängen auftaucht, die den eigenen Interessen nützen; nicht, wenn es um syrische Kurden oder chinesische Uiguren oder Kosovo-Albaner geht. Das sind allerdings alles Fälle, in denen bestenfalls eine Frage der Selbstbestimmung, also der staatlichen Formierung einer womöglich werdenden Nation mit dieser Integrität kollidiert, nicht ein Wunsch nach Wiedervereinigung einer Nation, die längst den Status eines Nationalstaates angenommen hatte.

Man sollte annehmen, dass ein Wunsch nach Wiedervereinigung einer bereits voll entwickelten Nation einen stärkeren Anspruch darstellt als die Selbstbestimmung einer erst einmal nur behaupteten Nation; unter anderem deshalb, weil es eine materielle Grenze für die Selbstbestimmung gibt, nämlich die ökonomische Lebensfähigkeit. Eine Nation, die bereits in einem Nationalstaat über längere Zeit hinweg existieren konnte, hat belegt, dass sie ökonomisch lebensfähig und dadurch imstande ist, Souveränität nicht nur zu beanspruchen, sondern auch zu wahren. Nationalstaaten, die keine ökonomische Grundlage haben, sind letztlich totgeborene Kinder, die nur so lange existieren können, wie eine externe Macht Interesse an ihnen hat.

Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine in den letzten 30 Jahren betrachtet, müsste man sich trotz des enormen Territoriums die Frage stellen, ob es sich hierbei um einen totgeborenen Versuch nationaler Selbstbestimmung handelt. Aber abgesehen davon: Das Recht auf Wiedervereinigung all jener, die dies wünschen, hat mindestens die gleiche Legitimität wie das Pochen der Anhänger des ukrainischen Nationalstaats auf Selbstbestimmung. Letzterer zeigt alle Anzeichen eines gescheiterten Versuchs. Die Bemühungen, die Geschichte so zurechtzubiegen, dass es gelingt, die Spuren des Großen Vaterländischen Krieges auszulöschen, müssen sich so weit von der historischen Wahrheit und der gelebten Erfahrung entfernen, dass sie notwendigerweise wahnhafte Züge annehmen.

Genau das ist es allerdings, was die Ukraine, wie noch einige andere von der Sowjetunion abgetrennte Gebiete, so tief spaltet. Und diese Spaltung macht es unmöglich, dass aus der doch eher zufällig zusammengewürfelten Bevölkerung tatsächlich eine Nation werden könnte; im allergünstigsten Falle würden es zwei. Denn es ergibt sich keine "Schicksalsgemeinschaft", sondern ein Schicksal, das der eine Teil dem anderen zufügt, eine Art überdimensionierter Rosenkrieg, bei dem jeder Eheberater zur baldmöglichsten Scheidung raten würde.

"Territoriale Integrität" über die wirklichen Wünsche großer Gruppen realer Menschen zu stellen, ist eine Sicht, die ihren feudalen Ursprung nicht verhehlen kann. Es ist ein modernes Äquivalent des "cuius regio, eius religio", jener Formel des Westfälischen Friedens, nach der jeder Untertan den Glauben des Landesfürsten annahm, mit oder gegen seinen Willen. Wechselte der Landesherr, wurde der Protestant eben katholisch. In manchen deutschen Gegenden passierte das alle paar Jahre.

Der Glaube, dem die Bewohner der ehemaligen ukrainischen Sowjetrepublik nun folgen sollen, ist der ihres ersten Staatschefs Leonid Kutschma, der das Gebiet aus der Union herausgetrennt hatte. Weil die politischen Eliten, im unmittelbaren materiellen Eigeninteresse, das sich in Millionen und Milliarden beziffern lässt, den Glauben an eine ukrainische Nation verordneten, sind die Bürger, so anscheinend die Sicht der westlichen Staaten, nun ebenso an diesen Glauben gebunden wie die deutschen Untertanen dereinst. Mit einer demokratischen Sicht, mit Volkssouveränität, hat das nichts zu tun. Sie verlangt, dass das Volk, oder eben gegebenenfalls die Völker, selbst über sein Schicksal entscheidet, und das schlösse das Recht mit ein, die nicht sehr wohlgeratene "Schicksalsgemeinschaft" Ukraine zu verlassen, auch als territoriales Kollektiv, nicht nur individuell.

Das Prinzip der "territorialen Integrität", dem man gerade ohne allzu große Hemmungen Hunderttausende ukrainische Bürger opfert, ist ohnehin nur die kaum verhüllte Fassade eines externen Anspruchs. Denn sonst gäbe es ein rationaleres, die eigenen Bürger achtenderes Verhalten. Die ukrainische Armee liefert nur die Bauern in diesem Spiel, der König sitzt woanders. Logik oder ein ehrlicher Umgang mit Begriffen haben hier keinen Platz. Eine ehrliche Debatte über die ganz realen Widersprüche, die der Entwicklung zu Grunde liegen, war schon 2014 zum Referendum der Krim unmöglich.

Das ändert aber nichts an der Wirklichkeit, und in der realen Welt vollzieht sich vor unseren Augen ein Prozess der Wiedervereinigung einer künstlich gespaltenen Nation. Anders, als es in Deutschland der Fall war, tatsächlich vom Willen der Bürger getragen. Dass dieser Wille nicht ohne militärische Unterstützung durchsetzbar ist, ändert nichts an der Legitimität eines solchen Prozesses. Die sowjetische Nation ist nicht weniger real als die deutsche. Der kollektive Westen wird dies natürlich weiterhin ignorieren, weil es ihm im Grunde nur um weitere Gebiete geht, die er ausbluten lassen kann; aber letztlich wird er sich dieser Realität nicht widersetzen können.

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