Meinung

Frag nach der ganzen Geschichte – Eine Antwort auf den gestrigen Kinderkommentar der Tagesthemen

Gestern sendeten die Tagesthemen einen Kinderkommentar mit der Überschrift "Kinderrechte in der Ukraine – Was stimmt nicht mit Leuten wie Putin?". Verfasst hat ihn die zwölfjährige Ella. Dies ist eine Antwort.
Frag nach der ganzen Geschichte – Eine Antwort auf den gestrigen Kinderkommentar der TagesthemenQuelle: www.globallookpress.com © Winfried Rothermel via www.imago

Liebe Ella,

toll, dass Du Dich getraut hast, Dich im Fernsehstudio vor eine große Kamera zu setzen und vor Millionen von Menschen zu sprechen. Und dass Du Dich schon so dafür interessierst, was in der Welt vor sich geht. Das ist eine gute Neugier, die man pflegen muss.

Mich hat Politik auch schon sehr früh interessiert. Als ich etwas jünger war, als Du jetzt bist, ging ein Krieg zu Ende, den ich im Fernsehen gesehen habe. Das war der Vietnamkrieg. In dem haben die Amerikaner viele Bomben und Chemikalien auf Vietnam geworfen und ganz viele Vietnamesen umgebracht, weil sie nicht wollten, dass da Kommunisten regieren. Am Schluss sind sie dann ganz schnell und panisch aus Vietnam verschwunden, ähnlich, wie im vergangenen Sommer aus Afghanistan (was Du bestimmt gesehen hast). Nicht nur die Vietnamesen, ganz viele Menschen auf der ganzen Welt haben das damals gefeiert, weil sie es schrecklich fanden, was die großen und reichen Vereinigten Staaten in dem kleinen und armen Land in Asien machten.

Besonders schlimm war das mit den Chemikalien. Die hießen Agent Orange und wurden eingesetzt, weil sich die Vietnamesen, die gegen die Amerikaner kämpften, in den Wäldern versteckten und dieses Gift dazu führte, dass die Bäume alle Blätter verloren. Aber Agent Orange war so giftig, dass die Leute, die damit in Kontakt kamen, nicht nur oft selbst schwer krank wurden, sondern auch Kinder bekamen, die schwer krank geboren wurden. Das ist ganz besonders gemein, weil das bis heute passiert, und das sind schon die Enkel.

Du siehst also, Du hast recht, Kinderrechte sind wichtig, und Krieg ist für Kinder besonders schlecht. Aber die Leute, die Dir geholfen haben und die jeden Tag in dieser Nachrichtenredaktion arbeiten, haben Dich ziemlich hängen lassen. Gut, nicht nur Dich, sondern auch alle anderen Zuschauer, aber Dich eben ganz besonders. Sie haben Dir nämlich eine Geschichte, die bei Dir ziemlich zentral ist, nur halb erzählt.

Dir ist sicher bewusst, dass auch Erwachsene lügen, und dass sie das oft raffinierter tun als Kinder. Eine sehr verbreitete Form der Lüge besteht darin, wichtige Teile einfach wegzulassen. Manchmal glauben sie die halbe Geschichte selbst, manchmal ist es ihnen wichtiger, gut bezahlt zu werden; das kann Dir eigentlich egal sein. Aber die ganze Geschichte mit dem Krieg in der Ukraine ist nicht so einfach, wie es die Nachrichten auf Kika erzählen.

Das ist ein bisschen so wie bei zwei Jungs, die sich an einem Tisch gegenübersitzen und streiten. Der eine tritt dem anderen unter dem Tisch gegen das Schienbein, und der andere haut ihm daraufhin über dem Tisch eine runter. Was macht dann der, der den Streit angefangen hat? Er heult laut herum und sagt, wie böse doch der andere ist, dass er Streit anfängt, jeder habe doch gesehen, wie er ihm eine Ohrfeige verpasst hat. Und wenn man die beiden Jungs nicht genau kennt, dann glaubt man das und wird auf den böse, der den anderen geohrfeigt hat.

Es gab diesen Tritt gegen das Schienbein, und der Tisch besteht in diesem Fall aus den Nachrichtenredaktionen, die manche Sachen einfach nicht berichten. Denn in der Ukraine gibt es seit acht Jahren Krieg, nicht erst seit Februar. Den hat nicht Herr Putin angefangen, sondern ein Mann namens Turtschinow, der selbst durch Proteste an die Macht kam, nicht durch Wahlen. Du warst damals gerade vier Jahre alt, du kannst das gar nicht wissen. Er hat jedenfalls Panzer und Flugzeuge in eine Gegend der Ukraine geschickt, in der die Leute eine andere Meinung hatten. Und in diesem Krieg sind seither viele Kinder gestorben, oder haben Arme oder Beine verloren oder ihre Eltern.

Es gibt in der Ukraine nämlich Leute, die Ukrainisch, und Leute, die Russisch sprechen. Das sollte eigentlich kein Ding sein, oder? Denk mal an die Schweiz, die hat vier verschiedene Sprachen: Deutsch, Italienisch, Französisch und Rätoromanisch. Für alle vier Sprachen gibt es Schulen und Fernsehen und Rundfunk, und keiner wird schief angesehen, weil er Italienisch und nicht Deutsch spricht. Das hast Du bestimmt schon einmal gehört. Die Ukraine hat eigentlich noch mehr Sprachen, nämlich Ungarisch, Polnisch, Bulgarisch, ja, sogar ein klein wenig Deutsch, weil im Lauf der Geschichte viele verschiedene Völker dorthin kamen. Die beiden größten Sprachen sind aber Ukrainisch und Russisch, und es gibt sogar Belege dafür, dass dort mehr Leute Russisch sprechen als Ukrainisch, wenn sie sich unterhalten.

Damals, als Du vier Jahre alt warst, kam eine Regierung an die Macht, die sofort wollte, dass man kein Russisch mehr sprechen soll in der Ukraine, und dass auch die Schulen nicht mehr auf Russisch unterrichten dürfen. Außerdem vertrat (und vertritt) sie die Vorstellung, dass sowieso alles Russische schlecht und böse ist. Das wollten die Menschen in der Region, die Donbass heißt, nicht, weil sie sich als Russen fühlen und gar nicht der Meinung sind, sie wären deswegen schlecht oder böse. Also haben sie protestiert.

Und dann schickte Herr Turtschinow Panzer und Flugzeuge und Raketenwerfer und Soldaten, um diese Proteste zu beenden. Die Leute im Donbass haben sich natürlich gewehrt. Genau genommen haben sie sich ganz heftig gewehrt, weil sie Angst hatten, dass Leute, die sie für schlecht halten, weil sie Russen sind, sie einfach umbringen wollen. Und diese Angst war nicht grundlos, denn zuvor waren noch andere schlimme Dinge passiert. Die waren aber so schlimm, dass ich finde, Du solltest noch etwas älter werden, ehe Du sie Dir ansiehst. In zwei Jahren vielleicht. Dann schau mal ins Internet nach Odessa, 2. Mai 2014.

Natürlich gab es Versuche, diesen Krieg zu beenden. Es gab sogar einen Vertrag, für den Deutschland mitverantwortlich ist, der heißt Minsker Abkommen. Der sollte dafür sorgen, dass die Menschen, die Ukrainisch, und die, die Russisch sprechen, wieder friedlich in einem Land miteinander leben können. Aber die Regierung in Kiew wollte davon nichts wissen. Der Vertrag sagte, sie müssen mit den Leuten im Donbass direkt reden, und das wollten sie nicht.

Nun hast Du sicher schon erlebt, wie man einen Streit beilegt, und weißt, dass da die beiden Streithähne miteinander reden müssen, weil das sonst nichts wird. Die Deutschen und die Franzosen, die, sagen wir mal, in der Geschichte sowas wie die großen Brüder der Ukraine sind, hätten schon dafür sorgen können, dass der kleine Bruder mit seinem Gegner redet, haben das aber nicht gemacht. Auch als russischsprachige Schulen und Fernsehsender ganz verboten wurden, sagten sie nichts. Und dann fing der Kleine Mitte Februar wieder an, unter dem Tisch nach dem Schienbein zu treten. Mehrmals und mit Kraft. Übersetzt heißt das, dass Mitte Februar auf das Gebiet im Donbass jeden Tag über tausend Raketen und Granaten geschossen wurden; und es sind Leute dadurch gestorben, auch Kinder.

Der Donbass hat aber auch einen großen Bruder. Der ist Russland. Der hat immer wieder versucht, den großen Brüdern des anderen, Deutschland und Frankreich, klarzumachen, dass sie dem Kleinen Vernunft beibringen sollen und dass er endlich Frieden schließen muss. Die haben aber nicht zugehört. Der Kleine, also die Ukraine, hat dann sogar gesagt, dass er sich schwer bewaffnen will, und auch da haben die großen Brüder nichts dagegen gesagt.

Im Maßstab der wirklichen Welt heißt das, der ukrainische Präsident hat erklärt, dass er Atomwaffen haben will. Es ist aber auf der ganzen Welt verboten, dass ein Land, das noch keine Atomwaffen hat, sich welche baut. Diese Waffen sind besonders gefährlich, weil sie einen Krieg auslösen können, den vielleicht kein Mensch überlebt, und ein Land, das sie sich beschaffen will, wird meistens dafür bestraft.

Das war der Moment, an dem es dem großen Bruder Russland gereicht hat. Und immer noch wird so getan, als gäbe es die acht Kriegsjahre nicht, in denen auch Schulen und Kindergärten kaputt geschossen wurden, und in denen Kinder leiden mussten. Auch die Ukraine hat die Kinderrechtskonvention unterschrieben. Aber stell Dir mal vor, Du müsstest fast jede Nacht in einem kalten und dunklen Keller verbringen, seit Du vier Jahre alt bist! Es gibt viele Kinder im Donbass, denen es genau so geht. Wenn diese Kinder Bilder malen (ich habe viele davon gesehen), dann wünschen sie sich auf diesen Bildern nur eines: Frieden!

Findest Du es nicht auch fies, wenn man Dir das alles nicht erzählt? Du hättest ja immer noch die Möglichkeit gehabt, zu sagen, dass noch mehr Krieg keine Lösung ist, oder dass Deutschland und Frankreich dafür sorgen sollen, dass alle Kinder in der Ukraine im Frieden leben können. Oder vielleicht wärst Du trotzdem bei Deiner Meinung geblieben. Aber Dich vor eine Fernsehkamera zu setzen und Dir vorher nur die halbe Geschichte erzählen, nur damit Du die Sätze sagst, die sie haben wollen, und es auszunützen, dass Du so jung und unschuldig aussiehst, das ist gemein.

Es ist nämlich so, dass im Moment Deutschland ganz und gar nichts für die Kinder in der Ukraine tut. Für die wäre es gut, wenn der Krieg zu Ende wäre, auch der im Donbass. Dazu müsste aber auch jemand wie Herr Scholz mal ein paar deutliche Worte zu Herrn Selenskij sagen, der jetzt Präsident in der Ukraine ist. Ihm zum Beispiel sagen, dass es nicht geht, in einem Land die einen für besser und die anderen für schlechter zu halten, nur weil sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Oder gar deshalb einen Krieg anzufangen. Das heißt, keine Tritte mehr unter der Tischplatte. Das könnte der Herr Scholz, weil eine ganze Menge Geld aus Deutschland in die Ukraine geht. Aber statt dem Streithahn klarzumachen, dass das so nicht geht, klopft er ihm auf die Schulter. Deutschland schickt Waffen in die Ukraine.

Und als Herr Scholz das letzte Mal in Russland war, das war ganz kurz ehe der größere Krieg in der Ukraine anfing, und der russische Präsident Wladimir Putin gesagt hat, wovor sich die Menschen im Donbass fürchten, da hat Herr Scholz gelacht. Der Herr Scholz ist aber Bundeskanzler, daher weiß er auch viele Sachen, die nicht in den Nachrichtensendungen kommen, und er war 2014 schon lange erwachsen. Er kann sich nicht darauf herausreden, nie etwas davon gehört zu haben.

Das war böse, dieses Lachen, denn die Kinder im Donbass sind wirklich gestorben oder haben wirklich ihre Eltern verloren, und mit dem Lachen hat Herr Scholz gezeigt, dass es ihm egal ist. Weil es aber vor vielen Jahren, im Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Armee in Russland – damals in der Sowjetunion – einmarschiert ist, dort ungeheuer viele Tote gab und über tausend Städte zerstört wurden, fanden das die Menschen in Russland gar nicht lustig.

Jetzt macht der Herr Scholz ganz verrückte Dinge, die Russland bestrafen sollen, die aber hier bei uns dafür sorgen werden, dass wir unsere Wohnungen nicht mehr heizen können und wir weniger zu essen haben. Das macht für die Kinder in der Ukraine nichts besser, sondern nur für die Kinder bei uns vieles schlechter, vor allem für die armen Kinder. Da helfen dann auch keine Kinderrechte, die im Grundgesetz stehen. Da hilft es nur, sich anders zu benehmen, anzuerkennen, wer wen unter dem Tisch getreten hat, und dann dafür zu sorgen, dass der Krieg endet.

Wenn Du also noch einmal eingeladen werden solltest, einen Kommentar in den Nachrichten zu sprechen, dann nerve die Redakteure ordentlich und verlange von ihnen, Dir die ganze Geschichte zu erzählen. Dann, und nur dann, kannst Du Dir sicher sein, dass sie Dich nicht ausnützen, um ihnen dabei zu helfen, die Dinge für die Kinder hier wie in der Ukraine, den Donbass eingeschlossen, noch schlechter zu machen. Aber ich denke, das kriegst Du hin.

Mit lieben Grüßen

Dagmar Henn

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.