Meinung

Das Abkommen von Minsk bleibt der einzige Weg zum Frieden in Osteuropa

Gewisse Ängste vergehen schnell, andere hören nicht auf zu drängen. Und wenn sie lange genug drängen, können sie sogar real werden. Die zunehmend alarmierenden Warnungen vor einer russischen Invasion in die Ukraine übersehen die Tatsache, dass es bereits einen Fahrplan für eine Deeskalation gibt.
Das Abkommen von Minsk bleibt der einzige Weg zum Frieden in OsteuropaQuelle: www.globallookpress.com © Sebastian Gollnow / dpa

Ein Kommentar von Tarik Cyril Amar

Die Pattsituation zwischen Russland und dem Westen über die Ukraine, die im vergangenen Oktober begann, ist gerade wieder eskaliert. US-Präsident Joe Biden und seine Regierung haben neue und dringende Warnungen vor einer bevorstehenden groß angelegten russischen Invasion ausgegeben, komplettiert mit Anweisungen für amerikanische Staatsbürger, die Ukraine unverzüglich zu verlassen. Mehrere westliche Regierungen sind diesem Beispiel gefolgt und haben ihre Bürger ebenfalls zum Verlassen der Ukraine aufgefordert. Einflussreiche westliche Kommentatoren wie Christiane Amanpour von CNN haben Washingtons Botschaft in den sozialen Medien unkritisch verbreitet, bevor sie sich dann wieder davon distanzieren mussten.

Umfangreiche Kriegshandlungen zwischen Russland und der Ukraine könnten ausbrechen oder auch nicht. Die Prognosen der US-Regierungen sind notorisch unzuverlässig, anfällig für Fehleinschätzungen und triefen von vorsätzlicher Täuschung, insbesondere wenn sie sich auf die sogenannte "Gemeinschaft der Geheimdienste" berufen. Russland bestreitet jede Absicht einer Invasion, legt aber seine Karten offen auf den Tisch. Die westliche Unterstützung mag diejenigen in der Ukraine ermutigen, die daran glauben, die Separatisten im Osten des Landes mit roher Gewalt besiegen zu können, ohne dabei die russisch Reaktion darauf in ihr Kalkül mit einzubeziehen. Und nicht zuletzt kann die endgültige Eskalation zu massiver Gewalt durch einen Unfall oder eine Provokation erfolgen, solange risikoreich auf beiden Seiten explosives und ballistisches Material gehortet wird.

Selbstverständlich sollte das nicht passieren. Genauso selbstverständlich sollte im Jahr 2022 die Idee eines, wenn auch indirekt, vom Westen losgetretenen großen Krieges im Herzen von Europa eine absurde Fantasie und keine reale Option sein. Aber wie ist es überhaupt bis zu diesem Punkt gekommen?

Wenn man nach einem weiteren, einseitigen Wortschwall sucht, mit dem ausschließlich Russland oder dem Westen die Schuld gegeben wird, während man so tut, als hätte die Ukraine keinerlei Rolle beim Heraufbeschwören dieses Fiaskos gespielt, dann sollte man jetzt besser aufhören, diesen Text zu lesen. Anstatt noch einmal darüber zu debattieren, wer hier die Hauptschuld trägt, sollte man sich wichtigeren Fragen stellen: Gab es Alternativen auf dem Weg zu diesem Punkt? Und gibt es auch jetzt, an diesem Punkt, noch Alternativen?

Die Antwort ist: Ja, es gab wiederholt Alternativen, beginnend mit dem von der EU vermittelten Kompromiss vom Februar 2014, der den nachfolgenden Konflikt vollständig hätte verhindern können, wenn er nicht sowohl von den kurzsichtigen nationalistischen "Revolutionären", als auch von ihrem feigen Intimfeind, dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, sabotiert worden wäre.

Die mit Abstand wichtigste Alternative hatte am 12. Februar ihren Jahrestag – nämlich das Minsk-II-Abkommen vom 12. Februar 2015, ausgehandelt in der weißrussischen Hauptstadt Minsk, das in mehrere Sprachen übersetzt in der Datenbank für Friedensabkommen der UN für jedermann abrufbar ist. Offiziell ein Maßnahmenpaket zur Umsetzung des vorangegangenen Minsk-Protokolls vom September 2014 – im Nachhinein de facto Minsk I –, war Minsk II wirklich ein völlig neues Abkommen.

Es ist jedoch ein trauriger Jahrestag. Denn der Kern der Sache, nämlich die inzwischen weltweit Kreise ziehende Ukraine-Krise durch einen Kompromiss zu beenden, bedeutet letztlich nichts anderes, als dass das Abkommen nicht gegriffen hat. Obwohl nicht offiziell für tot erklärt, kann der aktuelle Zustand von Minsk II am besten als komatös beschrieben werden. Das Abkommen könnte eines Tages vielleicht noch zum Leben erwachen, aber im Moment ist es auf Lebenserhaltung mithilfe der Diplomatie angewiesen. Auch beim jüngsten Treffen in Berlin kamen Russland und die Ukraine keinen Schritt weiter.

Man muss das einen Moment auf sich einwirken lassen. Seit sieben Jahren gibt es einen Fahrplan nicht nur zur Deeskalation, sondern zur vollständigen Beilegung eines Konflikts, der bereits rund 14.000 Opfer gefordert und Europa und die Welt an den Rand einer Katastrophe gebracht hat. Darüber hinaus war das Abkommen keineswegs etwas, das "handschriftlich auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt wurde", wie es der britische The Economist seinen Lesern jetzt als bizarre Falschinformation unterzujubeln versucht.

In Wirklichkeit ist Minsk II ein vollwertiges internationales Abkommen. Es wurde von Vertretern der ukrainischen Regierung, den Vertretern der Separatisten um die Städte Donezk und Lugansk, der OSZE und von Russland unterzeichnet. An den sehr schwierigen Verhandlungen, die dem Abkommen vorausgingen, waren direkt und prominent die Staatsoberhäupter von Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine sowie jene der selbsternannten separatistischen Republiken beteiligt. Das Abkommen wurde zudem umgehend vom UN-Sicherheitsrat gebilligt und forderte alle beteiligten Parteien dazu auf, es umzusetzen.

Also, warum hat es nicht funktioniert? Halten wir zunächst einmal fest, dass Minsk II trotz seines allgemeinen Scheiterns positive Auswirkungen hatte. Eine der wichtigsten Klauseln war ein Waffenstillstand. Man erinnere sich daran, dass bei Abschluss des Abkommens – und auch einige Zeit danach – in der Ostukraine immer noch massive Kämpfe stattfanden. Auch wenn der Waffenstillstand nicht eingehalten wurde, hat Minsk II eindeutig dazu beigetragen, die Intensität des Blutvergießens nachhaltig zu verringern, hat also Leben gerettet, auch wenn es mehr hätte retten sollen.

Doch das Abkommen wurde als mehr als nur ein Waffenstillstandsabkommen entworfen und unterzeichnet. Minsk II wurde als umfassender Rahmen für die Schaffung von Frieden ausgehandelt. In dieser Hinsicht betrafen die entscheidenden Bestimmungen die Wiederherstellung der Kontrolle Kiews über die separatistischen Gebiete und die Grenzen zu Russland, zusammen mit einer ukrainischen Verfassungsreform und Rechtsvorschriften zur Dezentralisierung im Allgemeinen und eines Sonderstatus für die separatistischen Gebiete im Besonderen. Dieser Status würde Themen wie Amnestien nach dem Konflikt sowie die Stellung der Sprachen und die Sozial- und Kulturpolitik regeln. Schließlich – und in Verbindung mit dem oben Genannten – beinhaltet Minsk II auch Bestimmungen für die Abhaltung von Wahlen in den separatistischen Gebieten.

Unter großem Zeitdruck ausgehandelt, war Minsk II ein Grundriss, der zwar viele Details offenließ, aber trotz hartnäckiger gegenteiliger Behauptungen konsequent, klar und gründlich genug war, um zu funktionieren – wenn der gute Wille auf allen Seiten vorhanden gewesen wäre. Minsk II ist nicht daran gescheitert, dass das Abkommen nicht sauber genug ausgearbeitet wurde, sondern weil sein unvermeidlicher Mangel an Sauberkeit bewusst dazu missbraucht wurde, es zu unterminieren.

Buchstäblich keine der beteiligten Seiten hat in Bezug auf die Umsetzung des Abkommens konsequent guten Glauben gezeigt, während man sich gegenseitig beschuldigte, das Abkommen zu sabotieren. Russland hat eine komplizierte und unproduktive Position eingenommen, indem es sich zwar als Unterzeichner, aber nicht als teilnehmende Partei, sondern lediglich als Garantiemacht oder als Schiedsrichter von Minsk II definiert hat. Das Argument des Kremls ist, dass Russland im Text des Abkommens nicht erwähnt wird. Angesichts der realen Interessen Russlands und seiner faktischen Beteiligung an diesem Konflikt, ist dies eine formalistische Linie, die nicht überzeugen kann.

Die Ukraine hat sich dem Abkommen nie wirklich verpflichtet gefühlt und lehnt es offen ab. Kiews Hauptargument ist, dass es unter Zwang abgeschlossen wurde und für die Ukraine nachteilig ist, da es die Souveränität des Landes, seinen Zusammenhalt als Staat und nicht zuletzt seine Bestrebungen bedroht, dem Westen – das heißt der NATO – beizutreten. Die direkt beteiligten Westmächte haben, obwohl sie an der Fiktion festhalten, Minsk II zu unterstützen, in Wirklichkeit Kiew erlaubt, diesen Weg der politischen Obstruktion zu gehen.

Auch die Separatisten haben immer wieder Maßnahmen ergriffen, das Minsk-II-Abkommen zu umgehen – etwa bei Wahlen – und es teils ausdrücklich für tot erklärt. Zusammengenommen hat dieser Mangel an Aufrichtigkeit zu einem Stillstand geführt, der sich in endlos wiederholten Auseinandersetzungen über die Abfolge bestimmter Schritte und die Bedeutung von Begriffen artikuliert, was sich beispielsweise in der anhaltenden Verunglimpfung des Abkommens als "Steinmeier-Formel" zeigt.

Sollte jetzt also über alle Beteiligten ein Fluch gelegt und Minsk II verschrottet werden? Nicht zwangsläufig. Erstens ist Minsk II der einzige Fahrplan zum Frieden, der existiert. Könnte man ein neues Abkommen erzielen und dabei wenigstens die Unterschriften aller beteiligten Parteien einfordern, dann könnte man das, was bereits vorliegt, ohne weiteres aufgeben, mit all seinen Fehlern und Nachteilen. Aber nicht vorher. Zweitens ist auch Minsk II reparierbar. Es ist nicht so dysfunktional, dass es gar nicht funktionieren könnte. Vielmehr hat es noch nicht funktioniert, weil niemand versucht hat, die Unvollkommenheiten von Minsk II konstruktiv zu beheben, anstatt sie für einseitige Vorteile auszunutzen.

Es ist möglich, bestimmte Schritte zu identifizieren, damit Minsk II funktionieren kann. Man erinnere sich daran, dass die offizielle Funktion des Minsk-II-Abkommens darin bestand, bei der Umsetzung von Minsk I zu helfen. So kontraintuitiv es auch klingen mag, wahrscheinlich braucht man jetzt – wir alle, in Ost und West – die Geduld und den guten Willen, Minsk III zu verhandeln, um sich darauf zu einigen, wie man Minsk II implementieren will.

Dieses dritte Abkommen müsste mindestens die folgenden Elemente beinhalten: Russland müsste seine wahre Rolle in diesem Prozess anerkennen – nicht nur als Schiedsrichter, sondern als eine Partei mit eigenen Interessen aufzutreten. Und das wäre auch in Ordnung. Die Ukraine müsste anerkennen, dass ein Abkommen ein Ganzes bildet. Man kann nicht das nächste Abkommen unterzeichnen und dann einfach auswählen, welche Punkte daraus man für umsetzbar hält und welche nicht.

Im Rahmen dieses Prozesses müssten die westlichen Partner der Ukraine – komme, was wolle – als ehrliche Makler auftreten, statt als Anwälte Kiews. Das bedeutet konkret, dass der Westen bereit sein muss, echten, greifbaren Druck auf die Ukraine auszuüben, falls es jemals zu einem Minsk III kommen sollte.

Schließlich müssten alle Seiten zwei Dinge anerkennen: Erstens muss die Frage der Krim als ein nur aufschiebbares Problem aus allen Verhandlungen ausgeklammert werden. Zweitens muss das zugrundeliegende Schlüsselproblem direkt angegangen werden – die geopolitische Ausrichtung der Ukraine. Der Westen wird sich von der fehlgeleiteten Vorstellung verabschieden müssen, dass eine Welt mit einer politisch neutralen Ukraine, ob es dem Westen gefällt oder nicht, eine gotteslästerliche Sünde wäre. Russland wird überzeugende Wege finden müssen, um zu beweisen, dass eine ukrainische Neutralität auch von Moskau als das behandelt wird, was sie bedeutet – Neutralität.

Die Ukraine kann eine gute Zukunft inmitten der "Einflusssphären" haben, um die Wortwahl des britischen Economist zu verwenden. In der Umlaufbahn bloß einer von beiden Einflusssphären hingegen sehr wahrscheinlich nicht.

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Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Er twittert unter @tarikcyrilamar.

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