Meinung

Nach zwei Jahrzehnten westlicher Intervention: Steht Afghanistan vor einem neuen Bürgerkrieg?

Lokale Behörden rufen Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und den schlecht ausgerüsteten Sicherheitskräften bei der Bekämpfung der Taliban zu helfen. Damit droht Afghanistan ein neuer Bürgerkrieg. Vor diesem Hintergrund könnten die Taliban indirekt künftig sogar als verlängerter Arm einer neuen US-Strategie in dieser Region agieren.
Nach zwei Jahrzehnten westlicher Intervention: Steht Afghanistan vor einem neuen Bürgerkrieg?Quelle: AFP © Hoshang Hashim

von Seyed Alireza Mousavi

Die Taliban erobern immer weitere Gebiete Afghanistans. Die Streitkräfte der afghanischen Regierung scheinen den Kampf gegen die Taliban weitgehend aufgegeben zu haben, obgleich sie in manchen Landesteilen noch Widerstand gegen die Taliban-Milizen leisten. Im Zuge der Taliban-Offensive haben in den letzten Tagen in manchen Bezirken kapitulierende Regierungssoldaten sogar ihre Ausrüstung dem Feind überlassen, teilweise aufgrund der Überzeugung, dass die Regierung im Zuge des vollständigen US-Abzugs aus Afghanistan noch im Verlaufe dieses Jahres zum Scheitern verurteilt sei. 

Die Sicherheitsbeamten der afghanischen Regierung beschweren sich inzwischen, dass der Rückzug der USA ein Vakuum hinterlässt, da die US-Regierung erkennbar nicht bereit war, das afghanische Militär für die künftigen Gefechte gegen die Taliban nach Abzug ihrer eigenen Truppen auszurüsten. Der chaotisch erscheinende Rückzug der USA vom Luftwaffenstützpunkt Bagram machte deutlich, dass es womöglich keinen klaren Plan für eine Missions-Übergabe an das afghanische Militär gab. Nach zwei Jahrzehnten Besatzung flohen die letzten US-Truppen angeblich einfach wie Diebe in der Nacht, sogar ohne vorher die afghanischen Streitkräfte vor Ort über das endgültige Verlassen von Bagram zu benachrichtigen. 

Der Militäreinsatz der USA in Afghanistan endet nach dem Wunsch des US-Präsidenten Joe Biden nunmehr bereits am 31. August. Die nationalen Sicherheitskräfte Afghanistans stehen daher jetzt teilweise ohne Nachschub und Verpflegung auf dem Schlachtfeld. Diese Tatsache scheint für die US-Amerikaner allerdings nicht mehr relevant zu sein. Auf eine Nachfrage zu den jüngsten raschen Gebietsgewinnen der Taliban wich US-Präsident Joe Biden kürzlich einer Antwort aus und sagte nur, er wolle lieber "über schöne Dinge" reden. Auf einmal interessiert sich die US-Regierung nicht mehr für die jahrelang geforderte Durchsetzung der sogenannten "demokratischen Werte" in Afghanistan, wofür der Westen auch selbst Tausende Tote – neben den höheren afghanischen Opferzahlen – in dem fast 20-jährigen Krieg zu beklagen hatte.

Nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan, sehen sich die Taliban folglich als die wahren Sieger des zwei Jahrzehnte dauernden Krieges gegen die ausländischen Soldaten in ihrem Land. Aber die entscheidende Frage diesbezüglich lautet, ob die Taliban in der Lage sind, sich in ganz Afghanistan durchzusetzen. Von einem endgültigen Sieg der Taliban in Afghanistan kann man dennoch nicht einfach ausgehen, wenn man die ethnischen Konflikte innerhalb des Landes in der Afghanistan-Frage allseitig berücksichtigt. Die anhaltenden Konflikte unter ethnischen Gruppen in Afghanistan sind die größte Herausforderung für die Zukunft des Landes.

Die Taliban entstammen der Gruppe der Paschtunen. Die Zukunftsfrage Afghanistans wird von daher die Frage nach den Beziehungen zwischen den Taliban und den nicht zu den Paschtunen zählenden Ethnien sein, von denen viele bereits in den 1990er Jahren sehr erbittert gegen die Taliban kämpften.

Obwohl die Taliban in den letzten Jahren versuchten, Kämpfer aus nicht-paschtunischen Ethnien zu rekrutieren, bleiben sie aber eine hauptsächlich paschtunische Kraft und werden als solche auch international angesehen. Neben den Paschtunen machen Tadschiken und Hazara andere große Volksgruppen in Afghanistan aus. Obwohl Paschtunen die größte ethnische Gruppe mit einer Bevölkerung von 16 Millionen, also fast 40 Prozent der afghanischen Bevölkerung bilden, sind aber alle Paschtunen nicht auch zugleich Anhänger der Taliban. Insbesondere ein Teil von ihnen sind auch Schiiten. Die Taliban repräsentieren höchstens 30 Prozent der multiethnischen Gesellschaft Afghanistans und sind im Grunde sunnitische Paschtunen.

Dass die Taliban weite Gebiete in Afghanistan in den letzten Tagen überrannt haben, sollte Beobachter insofern nicht täuschen. Die Taliban werden sich wohl angesichts der ethnischen Konflikte in Afghanistan nicht einfach im gesamten Land durchsetzen. Den Taliban-Milizen ist es auch bislang nicht gelungen, große Städte einzunehmen. Die Taliban gaben zudem zumindest bisher offiziell an, dass sie sich nicht an Gefechten innerhalb der afghanischen Städte beteiligen wollen. 

Lokale Behörden riefen in den letzten Wochen Zivilisten auf, sich zu bewaffnen und den schlecht ausgerüsteten Sicherheitskräften bei der Bekämpfung der Taliban-Offensive zu helfen. Vor dem Hintergrund der anhaltenden ethnischen Konflikte droht nun ein Bürgerkrieg im Land.

Bei den Friedensgesprächen im Jahre 2020 in Doha ließen die US-Amerikaner die vom Westen unterstützte Regierung in Kabul im Stich, indem sie die Taliban schließlich als einen wichtigen Akteur in Afghanistan anerkannt hatten, ohne ein Gleichgewicht der Machtverhältnisse zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul im Vorfeld zu debattieren. Die USA haben Afghanistan praktisch in eine Szenerie von Konfrontationen verwandelt, indem sie sich auch weigerten, die afghanische Armee effektiv auszurüsten, um am Ende allein gegen eine drohende Taliban-Offensive vorgehen zu können.

Solange zwischen den Taliban und anderen ethnischen Gruppen keine Form der Einigung erzielt werden kann, droht Afghanistan ein endloser Bürgerkrieg mit anhaltenden Strömen von Flüchtlingen und Terroristen – auch in die Nachbarländer und nach Europa. Für die Beilegung dieses Problems hatten die USA von Anfang an wohl erst recht keinen Plan. Im Zuge des innenpolitischen Konflikts in Afghanistan ist zudem nun auch die Stärkung der Positionen der Terrorgruppierung Islamischer Staat (IS) auf afghanischem Boden zu beobachten.

Tausende von Gefangenen in Militärgefängnis Bagram wurden nach dem überstürzten Abzug der USA von diesem Luftwaffenstützpunkt unter alleiniger Kontrolle afghanischer Streitkräfte zurückgelassen. Von den geschätzten 5.000 bis 7.000 Gefangenen, die dort inhaftiert sind, sind nur einige Hundert sogenannte "Kriminelle", aber darunter auch Terroristen und angeblich hochrangige Mitglieder der Al-Qaida. Dabei bleibt unklar, inwieweit die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage sein werden, einen Gefängnisausbruch aus Bagram zu verhindern. Die Zustände im Lager sollen wesentlich schlechter als in Guantánamo sein.

Die Türkei soll auch geplant haben, "syrische Kämpfer" nach Afghanistan zu verlegen, um den Flughafen von Kabul zu "bewachen". Erdoğan hat sich bereits mit den USA geeinigt, dass die Türkei den internationalen Flughafen Kabul nach dem Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan schützt. Das Außenministerium in Ankara gab dementsprechend auch vor Kurzem bekannt, das türkische Truppenkontingent sei künftig für die Sicherheit und den Flugbetrieb am Flughafen von Kabul zuständig.

Vor diesem Hintergrund könnten die Taliban indirekt sogar als verlängerter Arm der neuen US-Strategie in der Region agieren – ganz genau so, wie die sogenannten Rebellen und kurdische Separatisten in Nordsyrien dominieren, ohne dass die USA unbedingt eigene Truppen in der Region präsent halten  und weiterhin viel Geld in ihre abenteuerliche Ambitionen stecken müssen.

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