Meinung

Meinungshoheit – Corona und die deutschen Medien

Die Corona-Pandemie ebbt in Deutschland ab. Der Mainstream beanspruchte die Meinungshoheit für sich. Wie wurde kommuniziert, wie breit wurde diskutiert, wie offen war der Diskurs in Deutschland? Ein erstes Resümee und eine historische Einordnung.
Meinungshoheit – Corona und die deutschen MedienQuelle: www.globallookpress.com © Jens Kalaene/dpa

von Gert Ewen Ungar

Der Höhepunkt der Corona-Pandemie scheint in Deutschland überschritten, die Fallzahlen sind rückläufig, die Maßnahmen werden zurückgenommen. Deutschland hat es unter medizinischen Gesichtspunkten relativ gut überstanden. Die Auswirkungen in Italien, Frankreich und Spanien waren deutlich gravierender. Es gibt dort ein Vielfaches an Opfern zu beklagen.

Gravierender Schaden entstand in Deutschland an anderer Stelle. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie dysfunktional die deutsche Gesellschaft ist. Da ist auf der einen Seite der politisch-mediale Komplex, das Zusammenspiel von Medien und Politik, mit dem Ziel, Gesellschaft zu lenken und zu steuern. In diesem Zusammenhang werden journalistische Grundsätze aufgegeben und durch eine Art "Scripted Journalism" ersetzt.

Der Spiegel ist für diese Form des Journalismus, der gar keiner mehr sein will, das herausragende Beispiel, wie Marcus Klöckner in einem Beitrag im Onlinemagazin Multipolar nachweist. Man sucht zum Herrschaftsnarrativ die passende Geschichte, die passenden Helden, das passende Drama und präsentiert es den Lesern in Form von Journalismus imitierendem Kitsch.

Auf der anderen Seite steht eine größer werdende Zahl an Bürgern, die dieses Zusammenspiel durchschauen und ihm zunehmend misstrauisch gegenüberstehen. Hier findet sich die strukturelle Erklärung für die sogenannten Hygiene-Demos und manch irrationale Erklärungsversuche zur Pandemie. Zwischen Niedergang des deutschen Journalismus und den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen besteht ein Zusammenhang. Man kann diesen Zusammenhang allerdings nur verstehen, wenn man das Wirken der Medien in ihrer Breite historisch einordnet. Das Misstrauen ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, sondern hat eine Geschichte.

Als die rot-grüne Regierung 2003 den Umbau der Republik unter dem Titel "Agenda 2010" ausrief, mit der der Sozialstaat deutlich zurückgebaut und der Druck auf die Arbeitnehmer deutlich erhöht wurde, bildete sich eine breite mediale Front, die diese Maßnahmen als alternativlos und notwendig verkaufte. Wir hatten über unsere Verhältnisse gelebt, war das Credo einer breiten Allianz der Medien, die von Bild über Zeit, Spiegel, FAZ bis hin zu den Lokalblättern reichte. Es gab faktisch keinen Diskurs über die Notwendigkeit einer makroökonomischen Neuausrichtung der Republik hin zur Preisgabe der staatlichen Schutzfunktion und Rückbau des Sozialstaats.

Spätestens hier wurde ein Wandel im deutschen Journalismus deutlich sichtbar, der sich nicht mehr als kritische Kraft und Korrektiv, sondern als Multiplikator für Regierungsentscheidungen verstand. Lobbyisten wurden fortan als vermeintlich objektive Experten konsultiert, es wurden Begriffe erfunden, die beispielsweise Lohnkürzungen verschleierten und unter Euphemismen wie "Senkung der Lohnnebenkosten" als reformerischen Befreiungsschlag von "Verkrustungen" verkauften. Dabei sind all diese Begriffe höchst fragwürdig, wie sich an dem Begriff der "Lohnnebenkosten" einfach zeigen lässt. Es gibt für den Arbeitgeber nur die Lohnsumme. Senkt man die Beiträge der Arbeitgeber zur Sozialversicherung, dann hat man den Lohn gesenkt und die Absicherungsleistung eben gleich mit. 

Der deutsche Mainstream bringt das Kunststück fertig, in seiner Breite bis heute nicht zu hinterfragen, unter welchen Umständen es ökonomisch sinnvoll sein könnte, die Binnennachfrage einer Volkswirtschaft massiv zurückzufahren, und lobt die Agenda 2010 bis heute als notwendig und mutig. Dabei ist wirtschaftlich das Schleifen der Binnennachfrage durch breite Lohnsenkungen schwer begründbar, es sei denn, man hat vor, seine in einer Währungsunion verbundenen Handelspartner zu Tode zu konkurrieren. Und genau das passiert, nur aussprechen will es in Deutschland niemand.

Die Agenda 2010 war der Sündenfall des deutschen Mainstreams. Hier gab der Mainstream seine Aufgabe als vierte Gewalt komplett auf und wurde zur PR-Abteilung der Bundesregierung und der neoliberalen Thinktanks. Wohlgemerkt nicht einzelne Blätter, sondern der deutsche Journalismus in seiner Breite. Und schon damals war der Ton gegenüber denjenigen, die die Richtigkeit anzweifelten, von ausgesprochener Aggressivität. Das Wort "Besitzstandswahrer" ist in diesem Kontext zu nennen. Es wurde all jenen durch die versammelte Qualitätspresse an den Kopf geworfen, die nicht "reformwillig" waren.

Doch des Narrativs ungeachtet, das freilich gut konzipiert und ausgedacht war, entging den Deutschen nicht, dass der Standard sich senkte, dass der Druck und die Unsicherheit ebenso zunahmen wie die Ungleichheit. Es entging ihnen nicht, dass es für die überwiegende Mehrheit der Bürger keinerlei positive Auswirkungen all dieser "Reformen" gab.

Das Meinungsspektrum zur Agenda 2010 wurde von einer breiten Koalition des Mainstreams sehr eng gehalten und die Medienkonsumenten über die Auswirkungen der Agenda-Politik systematisch fehlinformiert. Medien und Politik hatten sich gegen die Interessen der Bürger zusammengetan. Es war ein politisch-medialer Komplex entstanden, der fortan aktiv Meinungen beeinflussen und steuern sollte und die Aufgabe von Medien und Journalismus auch genau darin sah.

Allerdings merkten es die Bürger dann am eigenen Leib, am Geldbeutel und Lebensgefühl: Da stimmt etwas nicht. Es ist kein Wunder, dass das Sinken der Auflagen der großen Zeitungen hier einsetzt, denn was viele Deutsche mit der Agenda 2010 gelernt haben, ist, dass Medien und Politik gemeinsam gegen Mehrheitsinteressen zugunsten von Einzelinteressen vorgehen.

Man könnte nun eine ganze Geschichte des Vertrauensverlustes schreiben. Man könnte auch eine Geschichte der Verbreitung von Fake News durch den Mainstream schreiben. Dass das Absenken der Nachfrage und das Anregen von Sparen einer Volkswirtschaft guttut, zählt mit Sicherheit zu den herausragenden Fake News, die der Mainstream in der jüngeren Geschichte verbreitet hat.

Mit privatwirtschafltichen Vorsorgemodellen wie der Riesterrente sollten diejenigen, die noch ein bisschen Kaufkraft hatten, diese durch einen Sparvertrag reduzieren.

Fake News wurden dann im Rahmen der Finanzkrise verbreitet, in der unter anderem so getan wurde, als würde in anderen Ländern weniger gearbeitet und als seien die Deutschen einfach fleißiger. Dass mit der voraufgegangenen Agenda 2010 die Löhne in Deutschland auf breiter Front gesenkt wurden, es eine innere Abwertung gab, die jetzt die Währungspartner unter Druck setzte, haben die deutschen Qualitätsmedien nie ausreichend zum Thema gemacht.

Welche Sprengkraft von dieser Abwertung innerhalb einer Währungsunion ausgeht, hat sich den Schreiberlingen in den Wirtschaftsteilen vermutlich auch nie wirklich erschlossen. Entsprechend konsequent muss es ihnen daher nun erscheinen, für das Auseinanderfallen der EU und der Währungsunion nicht die deutsche Wirtschaftspolitik, sondern russische Desinformationskampagnen auszumachen. Warum die ökonomisch plausible Erklärung nehmen, wenn man mit dem Finger auf andere weisen und vom eigenen Verschulden ablenken kann?

Dass in der Ukraine eifrige Demokraten in einem legitimen Bürgerprotest gegen ihre korrupte Regierung eine nähere Anbindung an die EU und eine Demokratisierung forderten, war in seiner Unterkomplexität die nächste Fake-News-Kampagne, die durch Deutschland getrieben wurde. Dass die Ostukraine von dieser Entwicklung nicht begeistert war, sie im Kern auch eher als Bedrohung und nicht als befreienden Fortschritt wahrgenommen hat, war dann eine Tatsache, die sich schlecht leugnen ließ. Man erfand die russische Einmischung und russische Soldaten, die vor Ort sein sollten, um das Narrativ von der friedlichen Revolution in der Ukraine aufrechtzuerhalten.

Doch weder die Special Monitoring Mission to Ukraine der OSZE, die täglich einen Lagebericht anfertigt und online stellt, noch die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages sehen das so wie der deutsche Mainstream. Im Gegenteil kommen die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zu dem Ergebnis, dass es sich um einen internen Konflikt, also einen klassischen Bürgerkrieg handelt, der in der Ukraine ausgetragen wird. Auch in diesem Zusammenhang hat der deutsche Mainstream fleißig Fake News verbreitet und deren Verbreitung massiv unterstützt. Im Nachhinein kam der damalige Chefredakteur von ARD-aktuell, Kai Gniffke, zwar zu der Einsicht, die Berichterstattung der Tagesschau wäre unausgeglichen gewesen.

Die Notwendigkeit sich zu entschuldigen sah er aber nicht. Dabei ist die auch von seiner Redaktion bekämpfte Darstellung, bei den Vorgängen in der Ukraine rund um den Maidan handele es sich um einen von außen beförderten Putsch, der zudem die extreme Rechte an die Macht spülte, deutlich näher an den Fakten als das von der Tagesschau verbreitete Märchen vom demokratischen Aufbruch und der Sehnsucht nach der EU.

Die Zuschauer und Leser haben diese Einseitigkeit deutlich gemerkt und die entsprechenden Berichte ebenso fleißig kommentiert und auf ihre Einseitigkeit hingewiesen. Das Ergebnis war, dass nicht die einseitige Berichterstattung korrigiert, sondern dass die Foren weitgehend geschlossen wurden.

Man könnte die Liste der Fake News des Mainstreams nahezu beliebig fortsetzen. Russische Einmischung in die US-Wahlen, wofür bis heute kein stichhaltiger Beweis geliefert wurde, Amtsenthebungsverfahren gegen Trump, an dessen Erfolg die Tagesschau und andere deutsche Medien auch dann noch glaubten, als längst klar war, dass es sich lediglich um politischen Theaterdonner handelte, Berichterstattung über Unruhen in Hongkong und Schweigen zu Protesten in Frankreich – der deutsche Journalismus ist in seiner Breite in einer schweren Krise, hat sich von seiner Aufgabe, neutral zu informieren, und damit von den Erwartungen an ihn entfernt.

Er pflegt doppelte Standards, wurde in zentralen Bereichen zur PR-Abteilung der Regierung und einseitig ausgerichteten Lobbygruppen, wie am Beispiel der Agenda 2010 hier gezeigt wurde. Dabei bleiben die großen Blätter ihrem Prinzip der Faktenleugnung treu, wie etwa die Süddeutsche hier beweist, die in einem Meinungsbeitrag eine Agenda 2040 fordert. Wer gegen die Interessen seiner Leser schreibt, muss sich nicht wundern, wenn die Auflage sinkt und Vertrauen in grundlegender Weise verloren geht.

Durch derartige Lobbyarbeit zugunsten von Einzelinteressen wächst das Misstrauen. Entsprechend schwierig gerät die Kommunikation in der aktuellen Corona-Krise – hier wird das Ergebnis des journalistischen Versagens der Vergangenheit eingefahren.

Zu Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland passierten regierungsseitig unglaublich viele Fehler. Es wurde beispielsweise versäumt, rechtzeitig Schutzkleidung und Masken zu bestellen. Entsprechend schwierig war es, plausibel zu erklären, warum aus einer angeblich mangelnden Schutzwirkung von Masken einige Wochen später plötzlich eine Maskenpflicht werden sollte, just zu dem Zeitpunkt, als wieder ausreichend Material zur Verfügung stand. Die Kommunikation war seitens der Bundesregierung und des Robert Koch-Instituts in vielen Punkten unehrlich und verunsichernd.

Diese Unehrlichkeit wurde vom deutschen Journalismus gedeckelt. Im Gegenteil wurde alles, was sich an kritischen Fragen aufdrängte, als Verschwörungstheorie abgetan und Fragesteller wurden diskriminiert und in die rechte Ecke gestellt. Dabei ist unmittelbar einsichtig, dass bei einem neu auftretenden Virus, das kaum erforscht ist, es mehr Fragen als Antworten geben muss. Eine Vielfalt von Meinungen und Standpunkten ist eigentlich der natürliche Zustand in einer solchen Situation.

Was jedoch passierte, war, dass diese Vielfalt und diese unterschiedlichen Meinungen überhaupt nicht zugelassen wurden. Auch in diesem Zusammenhang tat sich der Spiegel wieder besonders hervor, der nicht davor zurückschreckte, einen Journalistenkollegen wegen seiner anderen Haltung zu "enttarnen" und an den Pranger zu stellen. Aber auch die GEZ-Medien hielten sich nicht zurück. In den Tagesthemen gab es Raum für einen Kommentar, in dem all jene als "Spinner und Wirrköpfe" verunglimpft werden, die den Maßnahmen kritisch gegenüberstehen.

So vollendete die Corona-Pandemie in Deutschland das, was seit der Agenda 2010 gut vorbereitet war. Der Riss zwischen Medien und Politik einerseits und Bürgern andererseits wurde nochmals größer und tiefer. Da hilft es auch nichts, dass sich die Medienanstalten mit dem Deutschen Fernsehpreis in diesem Jahr für ihre Corona-Berichterstattung selbst auszeichnen. Das ist für aufmerksame Beobachter des Mediengeschehens in Deutschland ein recht absurd anmutender Vorgang.

So berichtet beispielsweise die Tagesschau vom Vorhaben der Innenminister, gegen Falschmeldungen strafrechtlich vorgehen zu wollen, in ganz erstaunlicher Weise neutral. Weniger neutral berichtet die Süddeutsche unter der Überschrift "Auch Spinner können gefährlich werden". Dabei müssten bei einem den Grundsätzen der Meinungs- und Pressefreiheit verpflichteten Journalismus angesichts eines solchen Vorhabens alle Alarmglocken läuten.

So wäre es denn sinnvoller, statt unter "Corona-Kritikern" nach Rechten und Reichsbürgern zu suchen, von einem Rechtsrutsch des deutschen Journalismus zu sprechen, wenn man die Vokabel denn schon bemühen möchte. Spiegel, Süddeutsche, Zeit und viele andere Formate haben mit der Agenda 2010 ihre kritische Funktion aufgegeben.

Das große Paradox und die eigentlich gefährliche Entwicklung ist, dass nun gerade diesen Vertretern eines affirmativen Regierungsjournalismus die Kontrolle über die Meinungen überlassen wird.

So wird ausgerechnet das recht schlampig arbeitende Recherchezentrum Correctiv mit Faktenchecks betraut, die Nachrichten auf Facebook einordnen sollen. Das geht regelmäßig schief, wie unter anderem die Auseinandersetzung mit dem Blog German-Foreign-Policy zeigt. Der Blog ist an journalistischer Sorgfalt Correctiv weit überlegen. Dennoch hatte Correctiv die Macht, einen Beitrag für die Nutzer von Facebook als Fake News zu markieren. Correctiv verfügt nicht über die notwendige journalistische Kompetenz.

Zudem wäre im Zusammenhang mit Corona zuzugeben, dass die rasante Entwicklung der Forschung im Hinblick auf Corona die Redaktionen schlicht überfordert. Es besteht überhaupt nicht das Potenzial, derart komplexe Vorgänge einordnen zu können.

Doch trotzdem: Gerade der Mainstream fühlt sich berufen, eine Wächterfunktion über Meinungen erbringen zu können, und bedroht damit in grundlegender Weise verfassungsrechtlich verbürgte Freiheiten, die er eigentlich verteidigen sollte. Eine extrem bedrohliche Entwicklung, der wir schutzlos ausgeliefert sind. Denn genau das, was uns davor schützen sollte, nämlich kritischer Journalismus, fällt seit der Agenda 2010 in zunehmendem Maße aus und ist selbst maßgeblicher Teil dieser Bedrohung. 

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