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"Anthropologische Katastrophe": Moskau reagiert mit Sarkasmus auf unfähiges Polit-Personal im Westen

Angesichts der irrationalen und selbstzerstörerischen Tendenzen der westlichen Politik fragt man sich in Moskau, mit welchem Gegenüber man es zu tun hat. Bisher begegnete man der euroatlantischen Selbstüberschätzung mit Ironie und Nachsicht. Doch inzwischen fällt die Diagnose illusionslos aus.
"Anthropologische Katastrophe": Moskau reagiert mit Sarkasmus auf unfähiges Polit-Personal im WestenQuelle: Gettyimages.ru © Marcus Brandt/dpa/picture alliance via Getty Images

Von Mirko Lehmann

Der in Russland bekannte liberal-konservative Moskauer Journalist Maxim Sokolow hat Anfang Oktober für die Nachrichtenagentur RIA Nowosti einen Kommentar zur internationalen Lage verfasst. Darin kommt er zu dem Schluss, dass eine Verständigung mit dem westlichen politischen Personal so gut wie ausgeschlossen sei. Denn die westlichen "Partner" hätten ganz allgemein keine Vorstellung mehr davon, worum es eigentlich geht. Die Postmoderne, so scheint es, habe ihnen die Begriffe genommen, die Sinne betäubt und den Verstand, soweit vorhanden, vernebelt.

Sokolow beginnt seine Analyse mit dem Verweis auf ein Statement der italienischen Botschaft in Moskau, die, wie er nicht ohne Ironie bemerkt, "elegant" formuliert habe, dass "angesichts der Entwicklung des internationalen Kontextes" – faktisch also der "Kriege und Kriegsgerüchte" – die Bedeutung der politischen Führung "in jedem Land, das direkt oder indirekt in einen Konflikt verwickelt" ist, zunehme. Eine einleuchtende Feststellung. Sokolow begründet dies so:

"Wenn eine Nation mit der Aussicht auf Katastrophen und Not konfrontiert ist, ganz zu schweigen von der unmittelbaren Notwendigkeit, dass ihre Bürger für ihr Land sterben, müssen diejenigen, die an der Spitze der Macht stehen, über ein Mindestmaß an Autorität verfügen, damit ihre Stimme die richtige Wirkung auf ihre Untertanen haben kann."

Spiegel der Geschichte

Offensichtlich sieht der Kommentator diese Forderung nicht als erfüllt an. Und so illustriert Sokolow die Dramatik des Umbruchs mit einem Zitat aus dem bekannten Gedicht "Der Dompfaff" des klassischen russischen Dichters und Staatsmanns Gawriil Derschawin, der nach dem Tod des berühmten russischen Generals Alexander Suworow im Jahr 1800 gefragt hatte:

"Mit wem sollen wir gegen die Hyäne in den Krieg ziehen?

Wer ist jetzt unser Anführer? Wer ist nun der Held?"

Allerdings ergebe eine Begutachtung der führenden Politiker des Westens ein "weit weniger befriedigendes Bild". Und zwar gerade dann, wenn man die Perspektive und die Interessen der westlichen Länder anlegt: Man könne nur von "totaler Inkonsequenz im Dienst" sprechen. Schließlich sei es nicht jedermanns Sache, Härten und Entbehrungen auf sich zu nehmen, die die politische Führung einem Land auferlegt. Handele es sich doch um eine Führung, die aus Figuren besteht, die "nicht nur über kein Charisma" verfügten, sondern bei denen "man sich nur noch fragen kann: 'Was sind das für Leute?'"

Dabei müsse man gar nicht erst von US-Präsident Joe Biden sprechen: "Beim Anblick dieses 80-jährigen Führers der freien Welt (was sowohl sein Amt als auch seine Eigenbezeichnung ist)" würden "die gemeinsten Witze über Leonid Iljitsch" (Breschnew) und über den greisen Spaziergänger von Prag (ein unübersetzbares tschechisch-russisches Wortspiel über Kaiser Franz Joseph I., das 1901 anlässlich der Eröffnung einer Brücke über die Moldau durch den Kaiser in Gebrauch kam) verblassen".

Einen selbstkritischen Blick in die russische Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts wirft Sokolow auch mit Bemerkungen über die Partei der Konstitutionellen Demokraten ("Kadetten"), die wie auch andere, politisch weiter rechts stehende Politiker keine besondere Wertschätzung für "Europa" gepflegt hätten. Zudem habe sich das Zarenreich mitten im Ersten Weltkrieg einen alten Mann – Iwan Logginowitsch Goremykin – als Premierminister geleistet, während in England, Frankreich und Deutschland "die Blüte der Nation" in die Regierungen berufen worden seien. Ob dem tatsächlich so gewesen ist, mag dahingestellt bleiben, doch zeigt Sokolow mit diesen Reminiszenzen an, dass die russische Seite auch vor der eigenen Haustür zu kehren bereit ist und nichts idealisiert.

Im Westen

Nicht besser sieht es Sokolow zufolge "auf der anderen Seite des Ozeans" aus. Dort warteten Kamala Harris, Nancy Pelosi und "verschiedene LGBTQ-Personen". Wer von ihnen eine Rolle als "Anführer" oder "Held" – im Sinne von Derschawins Gedicht – spielen könnte, sei schwer zu sagen. Die US-Amerikaner selbst seien mit einer solchen Frage überfordert, mutmaßt der russische Kommentator. Doch auch in der Alten Welt stelle sich die Lage nicht besser dar. Die "britische Panzerfahrerin Lisaweta Truss" verblüffe nicht die Russen, sondern die Engländer "mit der Kraft ihres Intellekts".

Wo von der britischen Premierministerin die Rede ist, kann Annalena Baerbock, vorgestellt als "Leiterin der deutschen Diplomatie", nicht weit sein. Sokolow greift die jüngste ministerielle Perle an Logik sowie Landes- und Sachkenntnis auf. So hatte sich die deutsche Außenministerin über die "Not der Ukrainer" folgendermaßen ausgelassen: Bei diesen Referenden würden die Ukrainer erschossen und vergewaltigt – sie müssten "dann drei Tage lang Kreuze machen", während "ein Soldat mit einer Kalaschnikow in der Hand" neben ihnen stehe. Dazu meint Sokolow:

"Man kann sich solche Reden nicht aus dem Munde des Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop vorstellen, auch Dr. Goebbels selbst drückte sich bisweilen treffender aus. Die Kunstturnerin Annalena hat sie alle geschlagen."

Auch der deutsche Finanzminister Christian Lindner sorgt bei Sokolow für Verwunderung und zieht dessen Spott auf sich. Nach den Anschlägen auf die Nord-Stream-Röhren hatte der Minister erklärt, man befinde sich in einem Energiekrieg um Wohlstand und Freiheit. Ziel dieses Krieges sei es, das zu zerstören, was Menschen in Jahrzehnten aufgebaut haben. Dies könne nicht akzeptiert werden, und man werde sich wehren. Daher sei es an der Zeit, erneuerbare Energien als Freiheitsenergie auf den Weg zu bringen.

Sokolow kann sich über diese ministerielle "Logik" nur wundern. Vor dem Hintergrund der "Sabotage in der Ostsee, durch die Deutschland um sein Gas gebracht" wurde, wirkten Lindners Äußerungen, "als wäre er im Delirium":

"Sowohl in der UdSSR als auch in Russland gab es verschiedene Finanzminister mit unterschiedlichen Ansprüchen, aber keiner von ihnen hielt große Reden über die 'Energie der Freiheit'."

Josep Borrell, der Hohe Repräsentant der EU, habe sich – Achtung: Ironie! – zur drängendsten aller aktuellen Fragen geäußert, als er "alle Mitglieder der LGBT-Gemeinschaft" aufgerufen hatte, Russland für immer zu verlassen. Nochmals Sokolow:

"Hier könnte man nicht von einer politischen, sondern von einer anthropologischen Katastrophe sprechen. Es gibt alle Arten von Politikern – solche, die den Anforderungen des Augenblicks gerecht werden, solche, die den Anforderungen des Augenblicks nicht ganz gerecht werden, und solche, die überhaupt nicht zurechtkommen. Aber Annalena, Borrell und Lisaweta sind gar keine Politiker (selbst wenn sie unbedeutend sind), sie stellen bereits das anthropologische Bild einer verhängnisvollen Degeneration dar."

Besonderheit der heutigen Lage

Dabei geht es Sokolow nicht darum, wie westliche Politiker zur Sowjetunion standen oder zum heutigen Russland stehen. Schließlich seien Konrad Adenauer und Franz Josef Strauß "auch keine Bewunderer der UdSSR" gewesen. Das Gleiche gelte für die US-Präsidenten Harry Truman und Lyndon Johnson:

"Aber sie waren keine ausgesprochenen Feinde der einfachsten Logik und des einfachsten gesunden Menschenverstands. Deshalb galten sie in Moskau als schwierige und unangenehme, ja geradezu feindselige Partner, aber ihre Vernunft wurde nicht in Frage gestellt. Denn weder Strauß noch McNamara waren Spinner, die mit der Leitung des Staates betraut wurden. Anders als …"

Darin bestehe heutzutage "die allgemeine Traurigkeit der aktuellen internationalen Politik". Die Widersprüche könnten sich bis zum Äußersten steigern: bis zur Drohung mit der Vernichtung. In dieser gefährlichen Lage gebe es eine Grundvoraussetzung:

"Wenn die Feinde zumindest einigermaßen zurechnungsfähig sind, wie es in früheren Zeiten der Fall war, kann man mit einigen mühsamen Anstrengungen eine Einigung erzielen und irgendwie ein Friedensabkommen erreichen."

Doch im Gegensatz zu früheren Zeiten des Kalten Krieges sei es heute angesichts der von Sokolow diagnostizierten "anthropologischen Katastrophe" völlig unklar, wie man zu einer Einigung gelangen könnte: Denn auf der Gegenseite habe

"er (oder sie) […] keine Ahnung, worüber wir reden. Das ist die Besonderheit der Periode der Weltgeschichte, in der wir leben."

Zugegeben, das ist für den Westen keine schmeichelhafte Diagnose aus Moskau. In ihrer bitteren Nüchternheit dürfte sie jedoch der Wahrheit beängstigend nahekommen.

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