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Welche Verluste kann die Ukraine verkraften, bevor sie gezwungen ist, mit Russland zu verhandeln?

Bereits vier Monate dauert der Militäreinsatz Russlands in der Ukraine an. Die Kämpfe, die am 24. Februar im Norden, Osten und Süden des Landes begannen, konzentrieren sich jetzt fast ausschließlich auf den Donbass. Ein Ende der Auseinandersetzung scheint nicht in Sicht.
Welche Verluste kann die Ukraine verkraften, bevor sie gezwungen ist, mit Russland zu verhandeln?Quelle: Gettyimages.ru © Oleh Tiurkin / EyeEm

Eine Analyse von Sergei Poletajew

Man muss zugeben, dass sich die Ukraine als Gegner viel stärker erwiesen hat, als viele am Vorabend der Offensive angenommen hatten. Der von russischer Seite angeführte Grund für den Beginn der Operation – die zunehmende Gefahr einer ukrainischen Invasion in den Donbass – verlor jedoch in den ersten Tagen, wenn nicht gar in den ersten Stunden, an Relevanz: Mit massiven Schlägen wurde die ukrainische Armee neutralisiert und ihrer Fähigkeit beraubt, offensive Aktionen durchzuführen.

Innerhalb weniger Wochen war es möglich, die Gebiete mehrerer Regionen ohne ernsthafte Kämpfe zu besetzen. Es kam jedoch nicht zum Zusammenbruch des ukrainischen Staates, und das Kommando über die Truppen des Landes wurde aufrechterhalten, eine Mobilmachung konnte durchgeführt und die Versorgung sichergestellt werden. Als der Westen sah, dass sich die Ukraine militärisch festsetzen und kämpfen konnte, beschloss er schließlich, in großem Umfang militärisches Gerät zu liefern.

Kiew hat es zudem geschafft, eine ziemlich effektive Propagandamaschinerie in Gang zu setzen, deren Kanon lautet: "Wir wurden angegriffen, der kollektive Westen unterstützt uns. Gemeinsam haben wir uns behauptet und den Feind zum Rückzug gezwungen. Gemeinsam werden wir bis zum Sieg kämpfen." Bisher hat dieses Pumpen von Durchhalteparolen in die Hirne der Menschen gut funktioniert. Jetzt aber werden nach und nach Risse im eingeschlagenen Narrativ sichtbar, es werden Fakten offengelegt – oder einfacher gesagt: Das Übermaß an Lügen schwappt allmählich über den Rand des mit Propaganda gefüllten Fasses.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Garnison von Mariupol, die zweieinhalb Monate lang eingekesselt war. Kiew insistierte die ganze Zeit, dass sie militärisch gerettet und dann in ein neutrales Land evakuiert werden muss. Geendet hat es jedoch mit einer ordinären "Evakuierung" in die russische Gefangenschaft. Den ukrainischen Soldaten und Kämpfern der nationalen Bataillone – in diesem Fall den Neonazis vom Bataillon "Asow" – wurde immer deutlicher, dass sie als Kanonenfutter im Informationskrieg eingesetzt werden. Zufall oder nicht, aber kurz nach dem Fall von Mariupol geriet auch die Front im Donbass ins Bröckeln, und angesichts drohender Einkesselungen ziehen sich Kiews Soldaten jetzt immer häufiger zurück oder geben ganze Städte und Dörfer kampflos auf.

In den von Russland besetzten Regionen Cherson und Saporoschje haben politische Verschiebungen stattgefunden: Die Schaffung vollwertiger zivil-militärischer Verwaltungen, die Umstellung des Zahlungsverkehrs auf Rubel, die Anbindung ans russische Fernsehen und Internet sowie die Umstellung der SIM-Karten auf russische Mobilfunkbetreiber. Russische Autokennzeichen werden ausgegeben, Symbole der ukrainischen Staatlichkeit werden entfernt und ein beschleunigtes Verfahren bei der Beantragung russischer Pässe wurde auf den Weg gebracht. Alles deutet darauf hin, dass Russland es mit diesem Territorium ernst meint und beabsichtigt, dort für lange Zeit zu bleiben. Im Gegensatz zu den von Russland kontrollierten Bezirken in der Region Charkow, wo bisher nichts dergleichen beobachtet wurde.

Der Kampf um den Donbass, der die Zukunft der laufenden Militäroperation bestimmen wird, ist in vollem Gange. Er folgt einem langsamen, schwerfälligen Muster, das keine schnelle und spektakuläre Niederlage der Streitkräfte der Ukraine vorsieht. Immer öfter macht ein Begriff aus dem Ersten Weltkrieg die Runde: Zermürbungskrieg. Der Konflikt bleibt für alle außerhalb der Ukraine lokal und peripher. Russland kämpft mit einer Streitmacht, die sich aus dem stehenden Heer rekrutiert, im Wesentlichen ein Expeditionskorps mit maximaler Kapazität, während der Westen, obwohl er Kiews Streitkräfte in einem beispiellosen Umfang mit Waffen und Munition versorgt, bisher noch nicht die neuesten und teuersten Waffen geliefert und noch nicht mit eigenen Truppen interveniert hat.

In jedem militärischen Konflikt sind zwei Fragen von grundlegender Bedeutung. Erstens, was sind die politisch akzeptablen Verluste – wie viel ist man bereit zu opfern, um militärische Ziele zu erreichen? Zweitens, was sind die materiell akzeptablen Verluste – wie viel Energie und Ressourcen kann man verschleißen, um trotzdem weiter zu kämpfen und Ziele zu erreichen? Versuchen wir im Hinblick auf die Streitkräfte der Ukraine, diese Fragen zu beantworten.

Wie viele Menschenleben ist die Ukraine bereit zu verlieren?

Politisch scheint die Antwort zu lauten: ziemlich viele. Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Gesamtzahl der getöteten, verletzten oder gefangenen ukrainischen Soldaten nur geschätzt werden. Die Zahlen sollen in Richtung Zehntausende gehen, und die öffentliche Meinung des Landes scheint diese Zahlen vorerst zu akzeptieren. Ja, die Verluste sind zwar hoch, aber man hält erfolgreich "die Orks" zurück, wie die russischen Soldaten in der Kiewer Propaganda genannt werden. Allerdings entstanden diese Verluste unter den besten, erfahrensten und motiviertesten Soldaten und werden – zumindest in absehbarer Zeit – schwer zu ersetzen sein. Darüber hinaus funktioniert die Verteidigungstaktik der Streitkräfte der Ukraine zwar gut in den befestigten Stellungen, die in den vergangenen Jahren im Donbass angelegt wurden. Wie sich jedoch unerfahrene Soldaten außerhalb solcher Stellungen und gegen eine in Angriffsoperationen erfahrene Armee schlagen werden, wird sich erst zeigen müssen.

Wie viele Waffen ist die Ukraine bereit zu verlieren?

Angesichts der Tatsache, dass Kiew scheinbar eine "Freikarte" für einen dauerhaften Lieferdienst für Munition und Waffen aus dem Westen zu haben scheint, ist diese Frage auf den ersten Blick irrelevant. Aber das Rückgrat einer Armee, insbesondere einer Verteidigungsarmee, sind nicht Hipster-Drohnen oder einzelne und veraltete gepanzerte Fahrzeuge, sondern Artillerie: Kanonen, Haubitzen, Mehrfachraketenwerfer und Mörser. Beim gegenwärtigen Umfang der Kampfhandlungen werden zudem Tausende, Zehntausende oder gar Millionen von Granaten dafür benötigt.

Ja, die UdSSR hatte Waffen angesammelt, die für ein paar Weltkriege gereicht hätten. Der Löwenanteil dieser Waffen wurde in der Ukraine gelagert und dient jetzt den Bedürfnissen von Kiew. Ja, Militärhilfe wird aus der ganzen Welt herbeigeschafft, aber der Zustrom an Waffen ist geringer als deren Verluste an der Front. Da sich die sowjetischen Vorräte mittlerweile erschöpft haben, steht der Westen vor der Aufgabe, die Ukraine in einem seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Umfang vollständig mit Militärgütern zu versorgen. Der Westen wird eine kampferprobte, aber stark erschöpfte Armee versorgen müssen, die zudem einen erheblichen Prozentsatz an unerfahrenen Neulingen aufweist, was zu noch mehr Verlusten führen wird, was dann wiederum auf eine Notwendigkeit einer noch umfassenderen Versorgung hinausläuft.

Wie lange wird die Ukraine wirtschaftlich überleben?

Fachleute sagen voraus, dass sich das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine in diesem Jahr halbieren und somit um etwa 100 Milliarden US-Dollar schrumpfen wird. Um die Wirtschaft angesichts von Mobilmachung, Gebietsverlusten, stagnierenden Unternehmen und Abwertung der Währung über Wasser zu halten, sind erhebliche Investitionen aus dem Westen erforderlich. Selbst eine vollständige Beschlagnahme der russischen Devisenreserven durch den Westen könnten diese nur teilweise auffangen, da derzeit die Versorgung des Militärs immer noch zentral ist und täglich bis zu einer Milliarde US-Dollar verschlingt.

Was ist mit Russland? Solange sich die Taktik der russischen Armee des langsamen Vorrückens mit Hilfe von Artillerie auszahlt, sollte man nicht erwarten, dass sich das ändern wird. Sollten die russischen Streitkräfte vollständig ins Stocken geraten, sei es bei Kämpfen um Slawjansk oder Kramatorsk oder in den Außenbezirken von Charkow oder Nikolajew, muss die Frage einer breiten Mobilmachung gelöst werden, die für den Kreml politisch immer noch nicht akzeptabel ist.

Für den Gegner – die Ukraine und den Westen – wird die Frage, welche Verluste akzeptabel sind, letztendlich darauf hinauslaufen, ob die ukrainischen Streitkräfte in der Lage sein werden, gegen die russische Armee vorzugehen und das eroberte Territorium zu besetzen und zu halten. Wenn sie dazu in der Lage sind, bleiben die wirtschaftlichen Kosten sowie die menschlichen Verluste nebensächlich. Die Ukrainer werden an die Front gehen, während die Waffen aus dem Westen kommen. Wenn sie dazu nicht in der Lage sind, wenn sich die Ukrainer immer weiter zurückziehen müssen, wenn auch langsam, dann wird es auf die Frage hinauslaufen, ob man den Waffenstillstand suchen oder den Einsatz erhöhen soll.

Es wird also wie bisher alles auf dem Schlachtfeld entschieden.

Übersetzt aus dem Russischen

Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Projekts "Vatfor".

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.