Meinung

Johnson musste gehen, weil die Löhne stiegen

Ein Skandal um eine Party? Zwielichtige Freunde? Das war nicht der Grund für Johnsons Sturz. Auch NATO-treu ist er wie seine möglichen Nachfolger. Wirklich störend war, dass er Industrie förderte und die Steuern für die Reichen nicht weiter senkte.
Johnson musste gehen, weil die Löhne stiegenQuelle: www.globallookpress.com © Jeff Overs/BBC

von Pierre Lévy

Am 5. September wird der Name des neuen britischen Premierministers bekannt gegeben. Im August sind nämlich die Mitglieder der Konservativen Partei ("Tory") dazu aufgerufen, zwischen den beiden Finalisten im Rennen um den Parteivorsitz zu entscheiden, wobei der Gewinner automatisch Regierungschef werden wird. Im Juli hatten die Tory-Parlamentarier die verschiedenen Kandidaten für dieses Amt – ursprünglich gab es ein Dutzend – nacheinander aussortiert, bevor es zu diesem finalen Duell kam.

Dieses wird zwischen dem Schatzkanzler (Finanzminister) des Kabinetts von Boris Johnson, Rishi Sunak, und seiner Kollegin im Außenministerium, Elizabeth Truss, ausgetragen. Ersterer war ein "Brexiter" der ersten Stunde, während Letztere sich erst nach dem Referendum im Juni 2016 für den Austritt aus der EU aussprach. Paradoxerweise wird diese vom Brexit-freundlichsten Flügel unterstützt.

Natürlich ist der Brexit vollzogen und unumkehrbar; dieses Thema steht also nicht mehr zur Debatte, abgesehen von den laufenden und künftigen konfliktreichen Verhandlungen mit Brüssel über die Umsetzung des Austritts- und des Freihandelsabkommens.

Der Wettbewerb um die Nachfolge von Boris Johnson begann am 7. Juli, als Johnson nach einer langen Verschwörung, die von vielen Parteifunktionären angezettelt worden war, buchstäblich zum Rücktritt gezwungen wurde. Diese Wendung mag überraschen: Im Dezember 2019 war Johnson als Wundermann aufgetreten, der die Konservative Partei zu einem echten Wahltriumph geführt und dann den Brexit ermöglicht hatte, der während dreieinhalb Jahren auf einen regelrechten Guerillakrieg der EU-Befürworter gestoßen war.

Das Ausmaß des Tory-Erfolgs an den Wahlurnen und damit auch in der Zahl der Parlamentarier hatte die zahlreichen Feinde des Premierministers zunächst zum Schweigen verurteilt. Diese befanden sich unter den konservativen Gegnern des Brexits, aber auch unter den "traditionalistischen" Tories, deren politische Referenz Margaret Thatcher bleibt.

Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass der Downing-Street-Mieter eine Politik verfolgt hat, die derjenigen der "Eisernen Lady" entgegengesetzt ist. Während die ehemalige britische Premierministerin einen auf Individualismus basierenden Ultraliberalismus propagierte ("Die Gesellschaft existiert nicht"), verfolgte ihr ferner Nachfolger einen "keynesianisch" inspirierten Ansatz: Ankündigung massiver öffentlicher Investitionen, Infrastrukturarbeiten, mehr Finanzierung für den öffentlichen Dienst (insbesondere für das Gesundheitssystem, auch Wiederverstaatlichung eines Eisenbahnnetzes), Wiederbelebung von Industrie und Technologie und Aufholjagd für die benachteiligten Arbeiterregionen, insbesondere Mittel- und Nordenglands.

Nicht, dass der ehemalige Bürgermeister von London plötzlich ein radikaler Linker geworden wäre, weit gefehlt. Aber er setzte damit eine Wahlstrategie um, die darauf abzielte, die Wähler in diesen ehemaligen Labour-Hochburgen zu halten, die sich aufgrund seines Versprechens, den Brexit endlich zu vollziehen, an Boris Johnson gewandt hatten. Das Ziel bestand darin, die Wähler aus der Arbeiterklasse im Tory-Lager zu halten – was sich mit der Aussicht auf eine Entwicklung des Landes, das nun von der Brüsseler Bevormundung befreit ist, deckte.

Nur war dies mit den Ansichten vieler Führer seiner Partei unvereinbar. Kaum war die Corona-Krise vorbei, begann sich im Hintergrund eine Fronde zu organisieren (diese entwickelte sich vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise von weltweitem Ausmaß: Inflation, schwindelerregend steigende Energierechnungen, Wachstumseinbrüche). Die Frage der Kaufkraft ist im Übrigen so entscheidend geworden, dass sich seit Juni im ganzen Land große Streiks entwickeln, insbesondere durch die massive Mobilisierung der Eisenbahner.

Der Rückgang der Zuwanderung durch den Brexit hat jedoch zu einem gewissen Arbeitskräftemangel geführt, der Löhne und Gehälter in gewissen Bereichen steigen ließ – und das natürlich zur großen Verzweiflung der Arbeitgeber.

Der "Partygate"-Skandal diente als Vorwand für den Aufstand von Parteimitgliedern gegen ihren Chef, als bekannt wurde, dass der Regierungschef seine Leute feiern ließ (und selbst daran teilnahm), während das ganze Land im Lockdown eingeschlossen wurde. Angesichts dieser Anschuldigungen versuchte Johnson, sich zu verteidigen, indem er ungeschickte Entschuldigungen, Halbwahrheiten und echte Lügen aneinanderreihte. Und – der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte – er verteidigte einen seiner politischen Freunde, der in einen Sittenskandal verwickelt war, musste dann aber zurückrudern.

Dennoch glaubte der Premierminister am 6. Juni noch daran, seine Haut retten zu können, als er bei einem Misstrauensvotum in den eigenen Reihen eine Mehrheit gewann. Aber die große Zahl der Stimmen für seinen Rücktritt (149 von 359) führte viele Kommentatoren zu der Einschätzung, dass der Regierungschef geschwächt sei.

Eine Feststellung, die sich schließlich in den beiden Tagen der langen Messer bewahrheitete: Am 5. und 6. Juli begannen seine eigenen Minister in massiver Zahl zurückzutreten, darunter auch einige derjenigen, die am Vortag von ihm gerade erst ernannt worden waren, um die Löcher zu stopfen. Das Motto lautete: Boris Johnson ist nicht mehr in der Lage, die Partei bei den für spätestens 2024 angesetzten Wahlen zu einem weiteren Sieg zu führen. All dies ließ ihm kaum eine andere Wahl, als seinen Rücktritt anzukündigen. Er behält jedoch das Ruder in der Hand, bis der Name seines Nachfolgers bekannt ist.

Derzeit überbieten sich die beiden Finalisten mit Thatcher'schen Versprechungen, wobei sie von einem Thema besessen sind: der Wiederaufnahme von Steuersenkungen und der Erhöhung des Ausmaßes, in dem diese vorgenommen werden. In diesem Bereich, der die Basis der Anhänger ansprechen solle, hat Truss einen Vorsprung und scheint die große Favoritin zu sein. Sie ist sogar so eifrig, dass sie ihre Haltung und ihren Kleidungsgeschmack an den von Lady Thatcher anlehnt. Sunak verspricht ebenfalls, die Steuerlast zu senken, aber als ehemaliger Finanzminister hält er sich mit kurzfristigen Verpflichtungen zurück, da er weiß, dass die Staatsfinanzen unter Druck stehen.

Wie auch immer, die kollektiven Bedürfnisse – insbesondere die sozialen und die Lohnbedürfnisse – könnten durch eine solche Kehrtwende ausgeblutet werden. Elizabeth Truss schlug beispielsweise einmal vor, die Gehälter von Beamten, die außerhalb der Hauptstadt wohnen, zu kürzen, weil die Lebenshaltungskosten in der Provinz niedriger seien (und ließ diese Idee schließlich fallen). Es ist eine Untertreibung zu sagen, dass solche Aussichten die Wähler aus den unteren Schichten, die Johnson zu verwöhnen gedachte, weiter von sich wegtreiben würden.

Vielleicht hat Johnson noch nicht das letzte Wort gesprochen. Eine Petition seiner Anhänger wurde in Umlauf gebracht, um seinen Namen auf die Liste der Finalisten zu setzen. Die Erfüllung dieser Forderung war zwar sehr unwahrscheinlich, aber auf lange Sicht scheint der scheidende Mieter der Downing Street nicht entschlossen zu sein, in den Ruhestand zu gehen.

Seine Rücktrittsankündigung schloss er mit dem Ausruf "hasta la vista, baby" (in Anlehnung an den Film Terminator, was man mit "bis bald" übersetzen könnte). Zuvor hatte er die Machenschaften eines "tiefen Staates" angeprangert, der sich seiner Politik widersetze – eine Bezugnahme, die normalerweise nur bei denjenigen üblich ist, die westliche Systeme infrage stellen, während Johnson natürlich kein NATO-Gegner ist (und einen sehr antirussischen Kurs verfolgte, den seine potenziellen Nachfolger fortzusetzen versprechen).

In nächster Zeit wird das Vereinigte Königreich also wahrscheinlich einen neuen innenpolitischen Kurs einschlagen, der die unteren Bevölkerungsschichten, die für den Brexit gestimmt hatten, enttäuschen und sogar verzweifeln lassen wird.

Der Brexit kann nicht automatisch zu einer arbeitnehmerfreundlichen Politik führen. Aber indem er sich von den Regeln und Zwängen der EU befreit, macht er sie möglich – zu gegebener Zeit ...

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