Nahost

Protest gegen geplante Justizreform: Israelische Soldaten verweigern reihenweise den Dienst

Die umstrittene Justizreform in Israel zieht zunehmend mehr Menschen auf die Straßen. Der Protest dagegen lässt auch in der neunten Woche nicht nach und hat nun auch das Militär erfasst.
Protest gegen geplante Justizreform: Israelische Soldaten verweigern reihenweise den DienstQuelle: www.globallookpress.com © Li Rui

Seit mehreren Wochen demonstrieren in Israel Zehntausende Menschen gegen die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu und dessen Pläne, weitreichende Änderungen am israelischen Justizsystem vorzunehmen. Der Protest wird immer breiter und hat nun offenbar auch das israelische Militär erfasst, in dessen Reihen sich zunehmend Widerstand gegen die geplante Justizreform regt. Die wachsende Protestwelle in dem Land richtet sich gegen die Pläne von Justizminister Yariv Levin, die bisher unabhängige israelische Justiz weitgehend zu entmachten, indem er die Befugnisse des Obersten Gerichtshofs zur gerichtlichen Überprüfung stark einschränken und die politische Kontrolle über die Ernennung von Richtern zementieren will.

Israel verfügt über keine Verfassung. Das Fundament der politischen Ordnung in dem Land bilden stattdessen zwölf Grundgesetze. Es ist Aufgabe des Obersten Gerichts in Jerusalem, Gesetzesvorhaben zu verhindern, die dem Geist dieser Gesetze widersprechen. Somit ist es die wichtigste Kontrollinstanz der Exekutive und sorgt für ein Gleichgewicht der Gewalten. Vor allem Netanjahus konservativer Likud-Partei ist der Oberste Gerichtshof deshalb ein Dorn im Auge. Hat er doch ihre Gesetze, welche etwa die Rechte von Minderheiten einschränken würden, wiederholt gekippt. Israels Regierung, in der mehrere vorbestrafte Minister sitzen – Netanjahu selbst muss sich aktuell wegen Korruption vor Gericht verantworten –, will daher den Obersten Gerichtshof entmachten.

Gemäß den Plänen von Justizminister Levin, die von Gegnern auch als "Justizputsch" bezeichnet werden, soll das Parlament Entscheidungen des Gerichts künftig mit einfacher Mehrheit überstimmen können. Sollte die Gesetzesinitiative tatsächlich beschlossen werden, könnte die Regierung etwa entscheiden, Netanjahu Immunität zu gewähren und den Korruptionsprozess gegen ihn zu stoppen. Das Oberste Gericht könnte dies zwar dann weiterhin für ungültig erklären, allerdings wäre das Urteil für das Parlament nicht mehr bindend. Die Oberste Richterin am Gerichtshof warnte daher wiederholt davor, dass die Verabschiedung des umstrittenen Gesetzespakets dem demokratischen Charakter des Landes einen "fatalen Schlag" versetzen und der Regierungskoalition zugleich nahezu unbegrenzte Macht verleihen würde. 

Kritiker der Pläne, zu denen hochrangige derzeitige und ehemalige Justizbeamte sowie Netanjahus politische Rivalen gehören, bemängeln, Levins Reformen würden grundlegende Bürger- und Minderheitenrechte gefährden, da die Befugnis des obersten Gerichts, Gesetze und Regierungsbeschlüsse zu kippen, nahezu aufgehoben würde und die Regierungsmehrheit die Kontrolle über die Ernennung von Richtern bekäme. Das bedeutet, dass die Justiz nicht mehr als Kontrollinstanz gegenüber der politischen Führung dienen könnte.

Soldaten verweigern Dienst 

Angesichts der geplanten Justizreform haben Tausende von israelischen Soldaten und Reservisten Medienberichten zufolge nun öffentliche Erklärungen abgegeben, in denen sie ankündigen, den Dienst in der Armee zu verweigern, sollte das umstrittene Gesetz der Regierung verabschiedet werden. Eine dieser Petitionen wurde demnach bereits von mehr als 250 Reservesoldaten unterzeichnet, die alle der Spezialeinheit der Armee angehören. Darin heißt es, dass das Gesetz darauf abziele, "die Justiz zu einer politischen und nicht unabhängigen Instanz zu machen, mit anderen Worten: ein Ende der israelischen Demokratie". Eine zweite, ähnliche Ablehnungserklärung wurde von mehr als 500 Reservesoldaten unterzeichnet, die alle der "Einheit 8200" angehören, eine israelische Geheimdiensteinheit, die mit der amerikanischen NSA in Verbindung gebracht wird.

Harte Kritik an den Plänen äußerten auch Veteranen der Elite-Einheit Sajeret Matkal. In einem offenen Brief schrieben sie, Netanjahus Bruder Jonatan habe 1976 bei einem Rettungseinsatz der Einheit auf dem Flughafen Entebbe in Uganda bewusst sein eigenes Leben für den Staat und das Volk Israels geopfert. Das Team hatte damals israelische Passagiere eines entführen Air-France-Flugzeugs gerettet. "Es ist traurig, aber Du, Bibi (Spitzname Netanjahus), opferst bewusst und mit offenen Augen den Staat und das Volk Israels für Deine eigenen Interessen", hieß es in dem Brief.

Medienberichten zufolge steht inzwischen fast jede Einheit der israelischen Armee vor einer Revolte von innen. Interne Chatgruppen der Armee werden demnach von einfachen Soldaten überschwemmt, die erklären, dass sie den Dienst verweigern werden, wenn der "Justizputsch" gelingen sollte. Insbesondere die Entwicklung innerhalb der Luftwaffe – eine der angesehensten Abteilungen der israelischen Armee – soll der israelischen Militärführung Berichten zufolge besondere Sorge bereiten. 

In einer Nachricht in einer internen WhatsApp-Gruppe der Luftwaffe kündigte ein Pilot laut eines Berichts des israelischen Nachrichtenmagazins Haaretz beispielsweise an, dass er den einen Tag in der Woche, an dem er normalerweise als Reservesoldat dienen müsse, nun stattdessen dafür nutzen wolle, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Ein anderer Verweigerer freute sich in den dem Nachrichtenmagazin vorliegenden Chats darüber, dass die Fähigkeit der Armee, Sicherheitsbedrohungen zu begegnen, "ohne Zweifel beschädigt wird", sollte das Gesetz tatsächlich beschlossen werden. Er betonte, dass "es ganze Einheiten gibt, vor allem im Geheimdienstbereich, aber auch im Technologiebereich, die das ganze Jahr über vom Reservedienst abhängig sind."

Nahezu alle Israelis werden im Alter von 18 Jahren zur Armee eingezogen, wobei Männer in der Regel 32 Monate und Frauen 24 Monate lang dienen müssen. Bemerkenswert ist jedoch, dass fast alle, die an der aktuellen Verweigerungswelle teilnehmen, Reservesoldaten sind – ältere Israelis, die entweder einen Monat pro Jahr oder einen Tag pro Woche über viele Jahre hinweg in der Armee dienen. Diese Reservesoldaten werden normalerweise zur regulären Ausbildung einberufen und in Kriegszeiten in großer Zahl rekrutiert. Aber auch im Alltag ist die Armee auf diese Reservisten angewiesen, vor allem in Bereichen, die eine längere Ausbildung und technisches Wissen erfordern, wie der Nachrichtendienst und die Luftwaffe. Ohne sie ist die Armee also nicht vollends einsatzbereit. 

Erst am Sonntag hatten fast alle Reservepiloten des Geschwaders 69, einer der Eliteeinheiten der israelischen Luftwaffe, gegenüber ihren Kommandeuren erklärt, dass auch sie den Dienst verweigern würden, sollte die Justizreform umgesetzt werden. Or Heler, ein Militärkorrespondent des israelischen Nachrichtensenders Channel 13, der die aktuellen Entwicklungen aufmerksam verfolgt, warnte in diesem Zusammenhang etwa, dass diese historische Revolte die israelische Armee in eine "noch nie dagewesene Krise" stürzen könnte. Eine Sorge, die sich angesichts der jüngsten Entwicklungen nun offenbar auch innerhalb der Führungsebene des israelischen Militärs ausbreitet, wie israelische Medien am Sonntag einstimmig berichteten. 

"Der Generalstabschef ist sehr besorgt und hat deshalb Gespräche mit dem Premierminister aufgenommen", erklärte der Sprecher für militärische Angelegenheiten, Nir Dvori, gegenüber den Medien. Doch was war passiert? 37 der 40 Kampfpiloten des Jagdgeschwaders 69 hatten sich vergangene Woche laut Medienberichten geweigert, ihr Reservetraining anzutreten. Sie wollten stattdessen vor Regierungseinrichtungen gegen die Reform demonstrieren. Auch Reservisten anderer Einheiten drohten, den Dienst zu verweigern, sollte der Vorstoß der Regierung von Netanjahu umgesetzt werden. 

"Wir stehen vor schweren und komplexen Herausforderungen", gestand Israels Verteidigungsminister Jo'aw Gallant am Sonntagabend ein. "Aufrufe zum Ungehorsam schaden der Fähigkeit des israelischen Militärs, zu funktionieren und seine Aufgaben zu erfüllen." Gallants Äußerungen folgten israelischen Medienberichten, wonach der Verteidigungsminister in den vergangenen Tagen mit dem Generalstabschef, Herzi Halewi, gesprochen habe, um die drohende Ungehorsamkeit aus Protest gegen die vorgeschlagene Justizreform und die möglichen Auswirkungen der Proteste auf die Funktionsfähigkeit des Militärs zu erörtern.

Der Vorsitzende der Nationalen Einheitspartei Benny Gantz distanzierte sich von den Aufrufen zur Dienstverweigerung und forderte die Reservisten auf, "weiter zu dienen und zu erscheinen, egal was passiert". "Ihr müsst dieses Land verteidigen, in Protesten und im Dienst", forderte er während einer Fraktionssitzung. "Helfen Sie nicht bei Ungehorsam." Gantz Fraktionskollege Gadi Eisenkot griff dessen Worte später am Sonntag auf und forderte die Soldaten ebenso dazu auf, sich wieder zum Training zu melden. "Die einzige Aufgabe der Reserveeinheiten besteht darin, die Existenz des Staates Israel zu sichern", schrieb Eisenkot auf Facebook. "Es gibt kein Israel ohne die Reserve. Wir müssen sie aus diesem wichtigen und gerechten Kampf heraushalten."

Die Ankündigung der Reservisten der Luftwaffe folgte auf eine Ankündigung von Reservisten der Eliteeinheit 8200 des Geheimdienstes in der vergangenen Woche, wonach sie protestieren würden, indem sie einige Aspekte ihres Reservistendienstes nicht erfüllten. So gab es zwar Befürchtungen, dass sich dies sogar auf die Einsatzbereitschaft dieser Einheiten auswirken könnte. Als Reaktion auf die Bedenken versicherten die streikenden Reservisten jedoch, wie gewohnt reagieren zu wollen, sollten sie zu tatsächlichen Einsätzen gerufen werden. "Die Piloten des 69. Geschwaders werden weiterhin dem jüdischen und demokratischen Israel dienen, auch jenseits der Grenzen des Feindes, zu jeder Zeit", erklärte Oberstleutnant "N" vom 69. Geschwader am Sonntag gegenüber Medien. Er betonte jedoch:

"Wie bei anderen bedeutenden Ereignissen, die die Piloten betreffen und einen Dialog erfordern, haben wir uns entschlossen, die planmäßige Ausbildung für einen Tag zu unterbrechen, um über die beunruhigenden Prozesse zu sprechen, die der Staat erlebt."

Von den Auswirkungen der Protestaktionen ist derweil jedoch nicht mehr nur das Militär, sondern auch Netanjahu selbst betroffen. Am Sonntagnachmittag berichteten Medien, dass sich keiner der für dessen Regierungsflüge zuständigen El Al-Piloten bereit erklärt hatte, Netanjahu und seine Frau Sara zu einem offiziellen Besuch nach Italien zu fliegen. Das Büro des Ministerpräsidenten kündigte daraufhin an, Anfragen an andere israelische Fluggesellschaften stellen zu wollen. Den Berichten zufolge weigerten sich die Piloten das Paar zu fliegen, weil auch sie gegen den Plan der Koalition zur Überarbeitung des Justizwesens sind.

Großes entsteht im Kleinen

Die neue Verweigerungswelle findet im Rahmen einer breit angelegten Kampagne von Massendemonstrationen und zivilen Widerstandsaktionen gegen die Regierung in ganz Israel statt. Die Demonstranten hatten in den letzten Wochen wiederholt wichtige Autobahnen und Bahnhöfe in den größten Städten Israels blockiert und einen landesweiten Generalstreik inszeniert. Zudem finden wöchentliche Märsche statt, die jeden Samstag Hunderttausende auf die Straße ziehen.

Ebenso wichtig sind die wirtschaftlichen Maßnahmen, die unter dem Banner dieser Bewegung ergriffen wurden: Viele israelische Bürger und Unternehmen haben ihre inländischen Aktien aus Protest gegen die Reform verkauft und stattdessen ausländische Aktien gekauft. Das hat Wirkung gezeigt: Im Februar stürzte der israelische Schekel um 10 Prozent gegenüber dem Dollar ab, und viele Beobachter warnen vor weiteren wirtschaftlichen Schäden und vor Kapitalflucht.

Doch trotz der heftigen Proteste schreitet die Justizreform immer weiter voran. Daher gingen am Samstag in Tel Aviv bereits die neunte Woche in Folge Tausende gegen diese Pläne auf die Straße. Die Demonstranten skandierten im Stadtzentrum "Demokratie, Demokratie" oder "Schande", viele schwenkten israelische Flaggen. An der Demonstration nahmen laut Medienberichten rund 160.000 Menschen teil. Auch in anderen Städten des Landes, darunter Jerusalem und Karmiel, fanden Proteste statt. Kritik an der Reform gibt es auch aus großen Teilen der Justiz, von Wirtschaftsvertretern und Israels Verbündeten im Ausland.

Doch so erfolgreich die israelischen Proteste auch sein mögen. Kritiker befürchten dennoch, dass die Organisatoren ein grundlegendes Problem übersehen. Insbesondere bemängeln sie, dass viele der Einzelpersonen und Gruppen, die die derzeitige Oppositionsbewegung anführen – einschließlich der Kampagnen zur Verweigerung des Armeedienstes –, ihre Botschaften in erster Linie auf die möglichen Auswirkungen der drohenden Justizreform auf die Menschen im Land konzentrieren und das eigentliche Problem, die Korruption im Land, in ihren Kampagnen kaum beachten würden. 

Dennoch ist auch diese Form der Kritik wichtig und legitim. Sowohl Strategen als auch Experten für zivile Widerstandsbewegungen betonen, dass sich erfolgreiche Kampagnen im Laufe der Geschichte häufig zunächst auf "kleinere" oder "symbolische" Forderungen konzentrierten, die dann später aber dazu beitrugen, die noch größere Ungerechtigkeit für größere Teile der Bevölkerung sichtbar zu machen. So konzentrierte sich die Kampagne der indischen Antikolonialbewegung beispielsweise zuerst auf den Kampf gegen eine britische Steuer auf die Salzproduktion – und eben nicht auf jenen gegen die gesamte Kolonialherrschaft. 

Mehr zum Thema - Massenproteste in Israel gegen geplante Justizreform halten an: Ministerpräsident warnt vor Anarchie

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.